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Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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bereits zwei Tage Vorsprung.«
    »Und es werden noch mehr draus, wenn wir anhalten müssen, um zu jagen«, gab sie zurück.
    Vor der Hütte, die sie mit Saeunn teilte, blieb sie abrupt stehen. Es war kaum einen Mond her, dass sie diese Hütte verlassen hatte und zu den Hautbooten gelaufen war, voller Vorfreude, mit Fin-Kedinn und Torak allein zu sein und Bale wiederzusehen.
    Sie schloss die Augen. Ungläubig hatte sie auf seinen leblosen Körper gestarrt. Die erloschenen blauen Augen. Den grauen Fleck auf dem Felsen. Das sind seine Gedanken, hatte sie sich gesagt. Seine Gedanken, die in diesen Flechten versickern.
    Tag und Nacht sah sie dieses Bild vor sich. Sie wusste nicht, ob es Torak genauso erging, denn wenn er überhaupt ein Wort sagte, dann, dass er Thiazzi finden müsse. Er war so besessen davon, dass er nicht einmal Zeit zum Trauern hatte.
    Feuchter Nebel tropfte ihr in den Nacken. Sie erschauerte. Sie war müde, steif gefroren von der Überfahrt und vor Kummer wie ausgehöhlt. Und sie war einsam. Sie hatte nicht geahnt, dass man sich unter Menschen, die man liebt, derart einsam fühlen konnte.
    Ringsum tauchten Jäger auf und verschwanden wieder im trüben Zwielicht. Sie stellte sich vor, wie Thiazzi sich genießerisch am Anblick des Feueropals weidete. Ein Mann, der nichts lieber tat, als anderen Leid zuzufügen. Ein Mann, der allein darauf aus war, zu herrschen.
    Die Rabenschamanin lag wie ein lebloses Bündel in ihrer Ecke unter dem muffigen Elchfell. In diesem Winter war sie so zusammengeschrumpft, dass sie Renn an einen leeren Wassersack erinnerte. Sie bewegte sich nur noch selten weiter als bis zum Abfallhaufen, und wenn die Raben weiterzogen, trugen sie Saeunn auf einer Trage. Renn fragte sich mitunter, was dieses eingeschrumpfte Herz überhaupt noch schlagen ließ und wie lange noch. Manchmal roch ihr Atem schon nach der Schädelstätte der Raben.
    Renn sammelte vorsichtig ihre Ausrüstung ein, um die Alte nicht aufzuwecken, und stopfte Vorräte in die Beutel aus Auerochsendarm: gebackene Haselnüsse, geräuchertes Pferdefleisch, zerstoßene Gänsefingerkrautwurzeln und getrocknete Preiselbeeren für Wolf.
    Unter dem Elchfell rührte es sich.
    Renn hielt ängstlich den Atem an.
    Langsam schob sich ein fleckiger Schädel aus der Decke und die harten Augen der Rabenschamanin musterten sie. »Aha«, sagte Saeunn, und ihre Stimme klang wie raschelndes Laub. »Du gehst. Dann musst du ja wissen, wo er steckt.«
    »Nein«, gab Renn zurück. Saeunn hatte es noch jedes Mal verstanden, den Finger in die Wunde zu legen.
    »Aber der Wald ist groß … Du hast doch bestimmt versucht, herauszufinden, wohin er gegangen ist.«
    Saeunn meinte damit die Schamanenkunst. Renns Hände schlossen sich fester um den Vorratsbeutel. »Nein«, murmelte sie.
    »Warum nicht?«
    »Ich kann das nicht.«
    »Aber du besitzt das Talent dazu.«
    »Nein, das stimmt nicht.« Plötzlich war Renn den Tränen nahe. »Angeblich kann ich in die Zukunft blicken«, sagte sie. »Trotzdem habe ich seinen Tod nicht vorausgesehen. Was nützt es, Schamanin zu sein, wenn ich das nicht voraussehen konnte?«
    »Du verstehst dich vielleicht darauf, die Schamanenkunst anzuwenden«, raspelte Saeunn, »eine Schamanin bist du deswegen noch nicht.«
    Renn blinzelte verwirrt.
    »Du wirst es wissen, wenn es so weit ist. Obwohl deine Zunge es vielleicht früher weiß als du selbst.«
    Rätsel, dachte Renn zornig. Warum nur spricht sie immer in Rätseln?
    »Ja, Rätsel«, sagte Saeunn, und ihr heiseres Keuchen klang beinahe wie ein Lachen. »Rätsel, die du lösen musst!« Sie hielt inne und schöpfte Atem. »Ich habe die Knochen geworfen.«
    Torak tauchte am Eingang der Hütte auf und warf Renn einen ungeduldigen Blick zu.
    Sie bedeutete ihm, still zu sein. »Was hast du gesehen?«, fragte sie.
    Die Schamanin leckte sich mit ihrer lehmgrauen Zunge das Zahnfleisch. »Einen leuchtend roten Baum. Und darin einen brennenden Jäger mit Aschehaaren. Dämonen, die unter rauchschwarzen Steinen hervorkriechen.«
    »Hast du auch gesehen, wohin Thiazzi gegangen ist?«, fragte Torak brüsk.
    »O ja … das habe ich gesehen.«
    Fin-Kedinn erschien mit grimmiger Miene neben Torak. »Er will zum Großen Wald.«
    »Zum Großen Wald«, wiederholte Saeunn. »O ja …«
    »Einige Angehörige des Eberclans sind gerade eingetroffen«, sagte der Rabenhüter. »Am Breitwasser haben sie an der Gabelung einen großen Mann in einem Einbaum gesehen, der das Schwarzwasser
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