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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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und Rechnungen durchgeschaut und mich dann jedes Mal zutiefst enttäuscht abgewendet. Zwei Tage nach Weihnachten kam dann tatsächlich eine Nachricht, doch anders als Großpapa und ich erwartet hatten, kam sie nicht in einem Brief.
    Sie kam in Form eines persönlichen Telegramms, und das jagte uns zunächst einmal einen Schrecken ein. Unternehmen benutzten Telegramme, um Waren zu kaufen oder zu verkaufen, doch ein Telegramm an eine Privatperson bedeutete immer, dass jemand aus der Familie verstorben war. Überbracht wurde es von Mr. Fleming, dem Telegrafisten, der mit dem Fahrrad zu uns herübergeradelt kam. Das Telegramm hatte er in einer Ledertasche. Er war im Krieg Soldat gewesen, und auch wenn er nicht unter Großpapa gedient hatte, bewunderte er ihn doch und war bemüht, ihm, wann immer es ging, zu Diensten zu sein. Ich traf Mr. Fleming am Ende unserer Einfahrt, wo ich niedergeschlagen im Abwassergraben nach Wasserläufern suchte. Es gab keine, und es war eigentlich sinnlos weiterzusuchen, aber die Alternative wäre gewesen, in meinem Zimmer zu sitzen und in meinem Weihnachtsgeschenk zu lesen.
    »Callie Vee«, rief er mir zu und stieg vom Rad, »ich habe ein Telegramm für Mr. Tate.« Ich nahm an, er meinte meinen Vater, und kramte in meinem Kopf, wer wohl gestorben sein könnte. Bestimmt seine Tante in Wichita, eine alte Dame, die ich nie kennengelernt hatte.
    »Kommt es aus Wichita, Sir?«, fragte ich.
    »Nein! Oh, eigentlich darf ich dazu gar nichts sagen. Aber gut, du hast es mir eben entlockt – es ist aus Washington.«
    »Was?«
    »Von jemandem in Washington.«
    »Mein Vater kennt jemanden in Washington?« Dann konnte es nur irgendwas mit dem Baumwollhandel zu tun haben – allerdings war es merkwürdig, dass es dann nicht an die Firma adressiert war.
    »Es ist nicht für deinen Vater, es ist für Captain Tate.«
    »Wie bitte?«
    »Das Telegramm ist nicht für deinen Vater, sondern für deinen Großvater.«
    »Meinen …«
    »Ich hab angenommen, er wollte es sofort haben«, sagte Mr. Fleming.
    Jetzt fand ich meine Stimme wieder. »Geben Sie es mir!«
    Er trat einen Schritt zurück und sah mich an, als wäre ich verrückt. »Was redest du da? Ich kann es dir nicht geben.«
    »Geben Sie mir das Telegramm!«
    »Du bist wirklich sehr unhöflich, Kleine. Was ist nur auf einmal in dich gefahren? Ich kann dir das Telegramm nicht geben, ich muss es einem Erwachsenen aushändigen, jemandem, der über 18 ist. So steht es in den Bestimmungen des Telegrafenamts …«
    »Es tut mir leid.«
    »… und ich nehme meine Dienstpflichten sehr ernst.«
    Mein Herz klopfte so wild, dass ich dachte, es müsste mir aus dem Brustkorb springen. » Kommen Sie schon, Mr. Fleming«, sagte ich und packte ihn am Arm. Ich wollte ihn in die Einfahrt zum Haus zerren, doch er war jetzt beleidigt, und außerdem hatte er sein Fahrrad dabei, sodass er schwer zu ziehen war. Für die Strecke hoch zum Haus, gut fünfzig Schritt, brauchten wir eine qualvolle Ewigkeit. Ich kam mir vor wie in einem dieser Albträume, in denen man mühsam versucht, sich in Treibsand fortzubewegen. »Schneller!«
    Endlich hatten wir es bis zur Veranda geschafft, und Mr. Fleming blieb stehen, schüttelte mich ab und rückte seine Kappe zurecht. Ich stürmte zur Tür herein und rief laut: »Großpapa, Großpapa, wo bist du?«
    »Calpurnia, es gibt keinen Grund, so zu schreien«, antwortete die kühle Stimme meiner Mutter aus dem Salon. »Mrs. Purtle ist zu Besuch. Komm herein, Schätzchen, und sag ihr guten Tag.«
    Normalerweise wäre ich bei diesem Tonfall schnurstracks in den Salon marschiert, aber da war doch die Tür zur Bibliothek, quälend nahe. Was tun? Ich drehte mich in der Eingangshalle wie der Korkschwimmer eines Anglers. Mutter entdeckte Mr. Fleming hinter mir und runzelte die Stirn. Sie wusste, was Telegramme zu bedeuten hatten.
    Der Telegrafist legte einen Finger an seine Kappe. »Guten Tag, Mrs. Tate. Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich habe ein Telegramm für Captain Tate. Aus Washington.«
    »Aus Washington?«
    »Du meine Güte«, zwitscherte Mrs. Purtle. »Wie aufregend!«
    »Kommen Sie herein, Mr. Fleming«, sagte Mutter. »Der Captain ist unten am Fluss, auf der Suche nach neuen Exemplaren für seine Sammlungen. Ich weiß nicht, wie ich ihn finden soll.«
    »Aber ich, aber ich!«, brüllte ich und war gleich darauf zur Tür hinaus. Das Insektengitter knallte hinter mir ins Schloss und übertönte fast die Worte meiner Mutter. »Bitte
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