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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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Sowjetzeit.
    Ich bin überzeugt davon: Keiner der heutigen Machthaber strebt freiwillig die Stellung eines Parias an. Es handelt sich bei ihnen einfach um zornige, gekränkte Jünglinge, die gefährlich sein können, die aber, wenn sie erwachsen sind, vermutlich mehr oder weniger normale Menschen sein werden. Natürlich nicht alle, aber in der Masse als politische Klasse gesehen, bestimmt. Damit das nicht passiert und sie auch im erwachsenen Zustand gefährlich bleiben, bräuchte es den Großen Terror, der die ganze Führungsschicht durch gemeinsame Morde verbindet und die Beseitigung zweifelnder Elemente garantiert.
    Ich bezweifle, dass das heute möglich ist. Die Armee braucht Köpfe und Know-how, die Bevölkerung moderne Produkte und einen mit den Nachbarn vergleichbaren Lebensstandard, die Elite Anerkennung und Respekt im Ausland. Lappalien, sagen Sie? Aber gerade diese Lappalien ändern die Motivation der Elite entscheidend, wie ich finde.
    Ich wünsche Ihnen das Beste.
     
    Lieber Michail Borissowitsch!
    Ich habe mit der Antwort ein wenig gewartet, weil ich dachte, Ihnen stehe der Sinn im Moment wohl kaum nach unserer Korrespondenz. Man hat mich davon überzeugt, dass das nicht stimmt, und so kehre ich also zu unserem
Thema zurück, zu dem Versuch zu zeigen, dass ich nicht ganz ohne Hoffnung bin und in der Zukunft nicht nur die »Finsternis der Macht « 78 sehe.
    Sie schreiben in Ihrem letzten Brief: »Die Armee braucht Köpfe und Know-how, die Bevölkerung moderne Produkte und einen mit den Nachbarn vergleichbaren Lebensstandard, die Elite Anerkennung und Respekt im Ausland. Lappalien, sagen Sie? Aber gerade diese Lappalien ändern die Motivation der Elite entscheidend, wie ich finde.«
    »Ihr Wort in Gottes Ohr!«, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Wenn alles so einfach wäre, hätten wir die jetzige Regierungsform schon unter dem Genossen Breshnew haben können. All das: Köpfe, Know-how, Produkte, Anerkennung sind jedoch offenbar nicht genug. Es fehlt noch etwas zur »Änderung der Motivation der Elite«. Oder steht im Gegenteil etwas, das überflüssig ist, im Weg? Die Bürde chronischen imperialen Denkens? Die Last geopolitischer Wunschträume? Oder das »Menschliche, allzu Menschliche«, das jeden Durchschnittsbeamten in einen VIP verwandelt? Wahrscheinlich alles auf einmal. Aber wie dem auch sei, egal welche Partei wir gründen, es kommt eine KPdSU dabei heraus, egal welche Wirtschaftsbranche wir wählen, es läuft auf die Rüstungsindustrie hinaus, und überhaupt: »Es kommt immer dasselbe dabei heraus«, etwas Rigides, Bürokratisches, Aggressives, etwas hoffnungslos Verstaatlichtes.
    Manchmal scheint mir, es bräuchte nur zwei Generationen ohne Inflation, Autoritarismus, demonstrative Aggressivität,
und es würde sich alles einrenken, es täte sich dann ein natürlicher liberaldemokratischer Weg für Russland auf, aber woher sollen wir diese zwei Generationen nehmen?
    Vor Kurzem habe ich in der Zeitschrift »Snob« die Antworten ganz unterschiedlicher Leute auf die Frage »Wie stellen Sie sich Russland in zehn Jahren vor?« gelesen. Mich hat der allgemeine Optimismus der Antworten erstaunt, ein vorsichtiger, aber eindeutiger Optimismus. Und das Leitmotiv hat mich erstaunt: Es wird keine besonderen Vorkommnisse geben, es wird sogar ein bisschen besser werden, aber großartige Katastrophen werden ausbleiben. Unsere Generation lässt sich die »Hoffnung auf Ruhm und Gutes« nicht nehmen. Trotz allem. Gegen jeden Pessimismus.
    Und tatsächlich: Ob Skeptiker oder leidenschaftlicher Pessimist, langfristig gibt es nur den liberaldemokratischen Weg. Jeder Autoritarismus, jede Verstaatlichung des sozialen Lebens bedeutet zweifelsohne eine Bremse, Stagnation, eine Unterbrechung des Prozesses, die übliche Militarisierung, ja sogar Krieg (zumindest einen »kalten«). Und es bringt zwangsläufig den Rückstand hinter Ländern mit einer freien Wirtschaft mit sich, eine triste Verwandlung in ein Obervolta mit Atombomben. Es bringt einen auf Dauer instabilen Haushalt mit sich, Konzerne, die nicht auf eigenen Beinen stehen können und – natürlich! – eine durch nichts begrenzte Macht der in alle Ritzen eindringenden, allgegenwärtigen, unkontrollierten Bürokratie, die alle Schaltstellen des staatlichen Getriebes mit Sand füllt … Ein solcher Staat ist vor allem nicht konkurrenzfähig. Er ist gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen: eine Perestroika vorzunehmen, die Eliten auszuwechseln, den Weg der
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