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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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seltener Einsicht und Würde vorstand, ließ sich in seinen Neigungen gehen, die ihn vor allem in die Vorzeit und die Studien der Vorzeit zogen. Er lebte nur im Klassischen, war nur umgeben mit klassischen Werken. Die neue Lektüre zog ihn nicht an, ja ließ ihn unbefriedigt. Damit in Übereinstimmung war auch sein Umgang. Aus den nicht immer gelehrten, aber immer ernsten Unterhaltungen, die ich still anhörte, nahm ich vielleicht früh, und früher als andere, den Grund meiner intellektuellen Bildung, und genoß auch früher, als es gewöhnlich ist, das Glück, bedeutenden Personen näher zu stehen, mit großer Güte behandelt und ihres Anteils gewürdigt zu werden. Auf diese Art wurde ich, meinen natürlichen Anlagen gemäß, früh zum Nachdenken geführt, und mehr durch Zuhören als durch Unterricht, mehr durch Nachdenken als durch Kenntnisse und Talente auf den Weg der Bildung geleitet. Die ernste Richtung, die so, schon als Kind möchte ich sagen, meine Seele nahm, schützte vor vielen jugendlichen Torheiten und Frivolitäten, nährte aber zugleich mehr, als es wenigstens zum Glück des Lebens gut ist, den Hang zum Idealen. Dabei bildete sich mehr und mehr, denn es war schon sehr früh, ja schon in der Kindheit entstanden, ein hohes, beseligendes Bild von Freundschaft in mir aus, das mir das größte, einzige Erdenglück erschien. Die erste Erzählung, die mir durch öfteres Lesen genau
bekannt wurde und mich begeisterte, war die allerdings wunderschöne Gesinnung und Handlungsart Jonathans gegen den zurückstehenden David. Alle Beispiele aus alter und neuer Zeit sammelte ich – Richardsons Clarisse gab den vollen Ausschlag. Jeder Aufopferung fähig, glaubte ich, nur für dies Glück geboren zu sein, und verlangte nichts Höheres. In Pyrmont war nun diese Überzeugung bis zur Begeisterung gesteigert und wurde bald die tiefe und unendliche Quelle vielfacher, leidenvoller Verhängnisse und schmerzlicher Verwickelungen. Verzeihen Sie diese Einleitung, die ich nötig glaube, um das Folgende richtig zu beurteilen.
    Nun gehe ich über zu der schmerz- und ereignisschweren Vergangenheit, und von da zu der drückenden und zerdrückenden Gegenwart, die mir eigentlich zu diesem Schritt den Mut gegeben hat. Es wird schon leichter werden, da während des Schreibens bis hierher nach und nach das seelenvolle Vertrauen zurückgekehrt ist, womit wir uns einst in den Pyrmonter Alleen besprachen und verstanden.«
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    Darauf folgte eine möglichst kurz zusammengefaßte Übersicht der hauptsächlichsten Ereignisse meines Lebens, worunter die am meisten herausgehoben und beglaubigt wurden, die mich zum Schreiben ermutigt hatten: meine großen Verluste an den Staat. Daran knüpften
sich Pläne für mein Fortkommen, denen aber überall meine zerstörte Gesundheit, ein Mangel und Erschöpftsein aller Lebenskräfte entgegentraten. Das alles gehört nicht hierher und ist nicht erforderlich als Kommentar oder Einleitung zu den nun folgenden wertvollen Briefen, welche dadurch entstanden. Der Schluß war dann ungefähr so: »Jetzt haben Sie die Umrisse meines Lebens in dem langen Zeitraum übersehen, geben Sie der treuen, immer schweigenden Teilnahme etwas zurück! Sie kennen das Herz der Frauen und wissen besser, als ich das sagen kann, wie teuer uns alles ist, was dem einst geliebten Manne angehört und ihn beglückt. Sagen Sie mir etwas von den teuern Ihrigen, geben Sie mir etwas ab von Ihrem Glück!
    Jetzt schließe ich die vielen Blätter ohne Furcht. Ich lege meine Angelegenheiten an Ihr Herz, da sind sie gut aufgehoben, und es geschieht, was geschehen kann. Wie sehe ich einer Antwort entgegen, die ich gewiß empfange!«
    H., den 18. Oktober 1814.
     
     
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WILHELM VON HUMBOLDT
     
BRIEFE

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Wien
, 3. November 1814.
     

    I ch habe heute früh Ihren Brief vom 18. Oktober erhalten, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich Ihr Andenken gerührt und gefreut hat. Ich hatte in unserm Zusammentreffen in Pyrmont immer eine wunderbare Fügung des Schicksals erkannt, denn Sie irren sehr, wenn Sie glauben, daß Sie in einer flüchtigen Jugenderscheinung an mir vorüber gegangen sind. Ich dachte sehr oft an Sie, erkundigte mich auch, aber immer fruchtlos, nach Ihnen, glaubte Sie verheiratet, dachte Sie mir mit Kindern und in einem Kreise, wo Sie mich längst vergessen hätten, und bewahrte nur in mir, was mir jene Jugendtage gelassen hatten. Jetzt erfuhr ich, daß Ihr Leben viel weniger einfach gewesen ist, als ich es
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