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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln
Autoren: L Reese
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ab, den Schlüssel von meinem Schlüsselring zu bekommen. Ich sehe die Qual in seinem Gesicht, das Mißtrauen. »Laß es mich erklären«, sage ich. »Ich gebe dir den Schlüssel zurück, aber laß es mich erklären. Bitte.«
    »Warum sollte ich dir zuhören? Ich hatte deinetwegen schon genug Probleme. Du kannst sagen, was du willst, ich werde dir das nie verzeihen.« Seine Stimme klingt hart und zynisch. Es ist die Stimme eines verbitterten Menschen. Er hat so viel auf einmal verloren, seinen guten Ruf, seine Freundin, seinen besten Freund, seine Unschuld – und alles nur meinetwegen.
    »Ich erwarte nicht, daß du mir verzeihst«, sage ich. »Ich will dir nur sagen, was passiert ist. Du hast mich einmal geliebt. Gib mir eine Minute, damit ich es dir erklären kann, dann gehe ich.«
    Seufzend fährt Ian sich mit der Hand übers Gesicht. Er wirkt müde, wie erschlagen. Schließlich geht er quer durch den Raum und zieht seine Jacke und Krawatte aus. Nachdem er beides über einen Stuhl gehängt hat, sieht er zu mir herüber. Er bleibt dort stehen, am anderen Ende des Raumes, so weit wie möglich von mir entfernt.
    »Ich ziehe zurück nach Sacramento«, sage ich. »Und ich
fange wieder an zu arbeiten.« Ich schweige einen Moment. Ich weiß nicht recht, was ich als nächstes sagen soll. Zweifellos hat Ian bereits seine eigenen Schlüsse gezogen. Die Zeitungen haben ziemlich ausführlich über das Feuer berichtet. Es war von »Praktiken« die Rede, »zu denen auch Fesselungen gehörten«. Bei einer solchen Gelegenheit sei im Haus ein Feuer ausgebrochen, und ich hätte M. »das Leben gerettet«, indem ich ihm die Hände abhackte. Soweit ist Ian informiert. Aber wie soll ich ihm erklären, wie es dazu gekommen ist? Wie sage ich ihm, was M. und ich alles miteinander getan haben?
    Ich fange mit etwas Leichterem an. Ich erzähle ihm von M.s Geständnis. Daß er mir gegenüber zugegeben hat, Franny getötet zu haben. Ich erzähle ihm, wie Frannys Tagebuch mich dazu brachte, M. zu verdächtigen, und wie ich mich in der Hoffnung, ihn entlarven zu können, systematisch in sein Leben drängte. Dann gestehe ich Ian, daß ich mit M. ein Verhältnis hatte, was er inzwischen längst erraten haben dürfte. Er zuckt nur ganz leicht zusammen und zieht gequält die Nase kraus, als ich ihm das sage. Aber er unterbricht mich nicht. Die sexuellen Details lasse ich aus – das spare ich mir für später auf.
    »Ich habe viele Fehler gemacht«, sage ich. »Mein Urteilsvermögen war getrübt.«
    Er steht immer noch auf der anderen Seite des Raumes und hört mir zu. Dabei zupft er gedankenverloren an seiner Unterlippe herum.
    »Aber mein größter Fehler«, fahre ich fort, »war, daß ich dir nicht vertraut habe.« Dann erzähle ich ihm von all den Jahren, in denen ich keinem Menschen vertraut habe. Ich fülle die Lücken in meiner Geschichte. Ich erkläre ihm, daß ich mich geändert habe. Dann gehe ich zu ihm hinüber und schlinge die Arme um ihn. Sein Körper versteift sich bei meiner Berührung, und ich spüre, wie er zurückweicht. Ich klammere mich fester an ihn, lege den Kopf an seine Schulter. »Gib mir eine zweite
Chance«, sage ich, obwohl ich weiß, daß ich eigentlich in der Lage sein sollte, allein zurechtzukommen. Aber ich kann es nicht. Nicht jetzt. Ich brauche Ians Stärke und Ehrlichkeit.
    Er seufzt, und ich sage noch einmal: »Bitte! Gib mir eine zweite Chance.« Und diesmal hebt er einen Arm und legt ihn ganz leicht auf meinen Rücken. Es ist eine sehr vorsichtige Umarmung, und ich denke mir, daß es nach allem, was wir durchgemacht haben, vielleicht doch nicht nötig ist, allein zurechtzukommen.

Bevor ich schließe …
    Manchmal, wenn ich ein Buch lese oder mir im Kino einen Film ansehe, habe ich den Eindruck, daß im Leben alles geordnet und klar verläuft, daß Tugend belohnt und Schlechtigkeit verfolgt wird. Nicht so im wirklichen Leben. Die Unschuldigen werden bestraft, die Schuldigen kommen ungestraft davon. Obwohl die Polizei alle Anklagen gegen Ian fallengelassen hat, wird er von manchen Kollegen und Freunden nach wie vor mißtrauisch beäugt. Sie scheinen immer noch im Zweifel zu sein, ob er nicht vielleicht doch ein Mörder ist. Was M. betrifft, könnte man natürlich argumentieren, daß der Verlust seiner Hände für ihn Strafe genug ist. Ansonsten aber ist er straffrei ausgegangen. Er lebt immer noch in Davis und genießt als Professor nach wie vor einen guten Ruf.
    Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen, seit
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