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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien
Autoren: John Updike
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Nachlaß fanden sie, zu ihrer Überraschung, das Goldnugget, das Tristão der Serra do Buraco abgerungen und in der Obhut der Genossenschaftsbank zurückgelassen hatte, von wo es in die Obhut des Staatssekretärs im Ministerium für innere Entwicklung geraten war. Dabei lag eine unverständliche Notiz: Die Hälfte des Erlöses soll für die Ausbildung meines Sohnes verwendet werden oder, wenn es dafür zu spät ist, für die Ausbildung meines Enkelsohnes Pacheco. Pacheco? Der Name rief ein fernes Echo in Tristão wach, aber er konnte ihn nicht unterbringen. Außerdem brauchten sie jeden Cruzeiro, der zu erben war, für sich selbst. Salomãos Tod fügte ihrem Wohlstand weniger hinzu, als sie erwartet hatten. Geld tauchte in Gestalt langer Zahlenkolonnen, von denen die Regierung hin und wieder ein paar Nullen abstrich, um die Inflation zu verschleiern, auf ihrem Konto auf und verflüchtigte sich wieder und war niemals ganz genug und auch nie soviel, wie ihre Freunde zu haben schienen. Es gab Zahnarzttermine, Einladungen zum Tee oder zum Abendessen, Firmungen und Abschlußfeiern, Fußballspiele der Schulmannschaft und Jugendkonzerte, bei denen sie sich sehen lassen mußten. Die Banalität, die bunt maskierte Langeweile des bürgerlichen Lebens – sie läßt den Geschichtenerzähler verstummen. Obwohl dieses Kapitel die längste Zeitspanne überstreicht, soll es nicht länger sein, als es nun ist!

29. Wieder im Appartement
    Mit Onkel Donaciano war eine seltsame Sache passiert. Ehescheidung war 1977 legal geworden, und ein Jahrzehnt später hatte er sich von Tante Luna scheiden lassen und, nach all den Jahren des Zusammenlebens ohne Trauschein, seine Haushälterin und Köchin Maria geheiratet. Binnen eines Jahres hatte sie ihn verlassen, und niemand konnte sich vorstellen, warum. Er schien in Liebesdingen zu Fehlschlägen verdammt zu sein. Isabel hatte Mitleid mit ihm, und ihre Besuche bei ihrem unbeweibten Onkel in Rio wurden häufiger.
    Bei diesem Besuch, der fatale Folgen haben sollte, ließ sich Tristão für die arbeitsfreien Tage der Textilfabrik nach Weihnachten zum Mitkommen bewegen. Sie überlegten, ob sie auch die Kinder mitnehmen sollten, kamen aber zu dem Schluß, daß das hochsommerliche Rio für die Neun- und Zwölfjährigen ein zu gefährliches Pflaster war. Kriminalität, Laster, Obdachlosigkeit und Nacktheit waren allgegenwärtig. Aus ihren Kindern waren behütete, verwöhnte Paulistanos geworden, deren lärmende, quengelnde Anwesenheit auch ihrem kinderlosen, alternden Gastgeber zu schaffen gemacht hätte.
    Onkel Donaciano begrüßte sie herzlich und dankbar – der Schlag, der seinem Stolz von seiner zweiten Frau versetzt worden war, hatte ihn zu einem alten Mann gemacht. Sein Haar, das glatt an den Schädel geklatscht war und hinten zu einem Schopf zusammenlief, wie man ihn bei manchen tropischen Vögeln sieht, war jetzt von grauen Strähnen durchsetzt – war geradezu gestreift, mit einer verblüffenden Regelmäßigkeit, die an ein mechanisches Eitelkeitsritual denken ließ –, und seine Hände zitterten als Folge von zu vielen spätnachmittäglichen Gins. Sein Charme war altjüngferlich geworden, erschöpfte sich in einer tatterigen Zögerlichkeit und einer automatischen, fast flehentlich wirkenden, verwirrten Ehrerbietung.
    In seinem Appartement waren die beiden Kerzenleuchter aus Kristallglas, die Isabel und Tristão vor so vielen Jahren gestohlen hatten, durch ein fast identisches Paar ersetzt worden, und der gewaltige Kronleuchter hing noch immer wie eine heilige Riesenspinne mit S-förmigen Messingbeinen im Zentrum der Rosenkuppel aus Mattglas. Für Tristão strahlte der Raum immer noch die lichtdurchflutete Stille einer Kirche aus, aber die Möbel, die gefransten Zierkissen, die Vasen in Goldemail und die goldgeprägten Rücken von niemals aufgeschlagenen Büchern kamen ihm nicht mehr prächtig, sondern ein wenig schäbig und veraltet vor, Zeugnisse eines überlebten Stils luxuriöser Innendekoration. Er und seine Freunde in São Paulo liebten es sachlicher und kantiger, mit rauheren Stoffen in gebrochenen Weiß- und Gelbbrauntönen und niedrig hängenden Lampen, die Lichtkreise aus dem Dunkel schälten – ziemlich genau der Stil ihres Büros, nur weicher gepolstert und ohne den Plastikglanz der Computer. Verglichen mit dem modularen Design ihrer Zimmer, nahm sich Onkel Donacianos Wohnung wie ein vergitterter Harem aus, dessen Kissen auf weibliche Körper in durchscheinenden
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