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Bradbury, Ray - Halloween

Bradbury, Ray - Halloween

Titel: Bradbury, Ray - Halloween
Autoren: Halloween
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nicht.«
Schweigen.
»Ich«, sagte Tom schließlich.
Er setzte den Fuß auf die erste Stufe. Er sank in
die Erde. Er machte noch einen Schritt. Dann war er
plötzlich verschwunden.
Die anderen folgten ihm.
Im Gänsemarsch gingen sie die Treppe hinunter,
und mit jedem Schritt wurde die Finsternis finsterer
und die Stille stiller, und die Nacht wurde sehr
schwarz und tief wie ein Brunnen, und die Schatten
lauerten auf sie und schienen sich aus den Wänden
vorzurecken, und bei jedem Schritt schienen ihnen
aus der langgezogenen Höhle, die sie erwartete, seltsame Wesen entgegenzulächeln. Fledermäuse hingen
zusammengedrängt dicht über ihren Köpfen und
schrien so dünn, daß man sie nicht hören konnte. Nur
Hunde hätten sie gehört, hätten schreckliche Angst
bekommen und wären davongerannt, so schnell es
nur ging. Mit jedem Schritt entfernten sie sich ein
Stück weiter von der Erde und den freundlichen
Menschen, die es dort gab. Selbst der Friedhof dort
oben schien weit entfernt zu sein. Sie fühlten sich
einsam. Sie fühlten sich so einsam, daß sie hätten
weinen können.
Denn jeder Schritt weiter in die Erde hinein entfernte sie Milliarden Kilometer vom Leben und von
ihren warmen Betten, dem sanften Kerzenlicht, den
Stimmen ihrer Mütter und dem Pfeifenrauch und
dem Räuspern ihrer Väter in der Nacht, das einem
das gute Gefühl gab zu wissen, daß er irgendwo dort
in der Dunkelheit war, daß er lebendig war und sich
im Schlaf umdrehte und imstande war, mit den Fäusten zuzuschlagen, wenn es sein mußte.
Schritt um Schritt ging es hinab, und als sie
schließlich am Fuß der Treppe angekommen waren,
lag vor ihnen eine langgestreckte Höhle, ein langer
Saal.
Und alle Leute waren da, und sie waren sehr still.
Sie waren schon seit langem sehr still.
Manche waren seit dreißig Jahren still.
Manche waren seit vierzig Jahren still.
Manche hatten seit siebzig Jahren keinen Ton von
sich gegeben.
»Da sind sie also«, sagte Tom.
»Die Mumien?« flüsterte einer.
»Die Mumien.«
Sie standen in langen Reihen an den Wänden –
fünfzig Mumien an der rechten Wand, fünfzig Mumien an der linken Wand. Und vier Mumien warteten im Dunkeln am anderen Ende des Saals. Einhundertvier staubtrockene Mumien, die einsamer waren
als sie, die sich einsamer fühlten als sich die Jungen
ihr Lebtag fühlen würden – sie waren verlassen, man
hatte sie hier unten gelassen, wo es kein Hundegebell, keine Glühwürmchen, keine singenden Männer
und Gitarrenklänge in der Nacht gab.
»O je«, sagte Tom. »All diese armen Menschen!
Ich hab von ihnen gehört.«
»Was?«
»Ihre Familien konnten die Mieten für die Gräber
nicht mehr zahlen – da haben die Totengräber sie
ausgegraben und hierher gebracht. Die Erde ist so
trocken, daß sie zu Mumien werden. Und seht nur,
was sie anhaben.«
Die Jungen sahen, daß manche der lange verstorbenen Menschen wie Bauern und manche wie Mägde
gekleidet waren. Manche trugen alte, dunkle Anzüge
wie Geschäftsleute, und einer war in seinem Anzug
aus leuchtenden Stoffen sogar ausstaffiert wie ein
Stierkämpfer. Doch unter der Kleidung waren Haut
und Knochen und Spinnweben und Staub, der durch
die Rippen rieselte, wenn man nieste oder die Mumien berührte.
»Was war das?«
»Was?«
»Pssst!«
Alle lauschten.
Sie spähten in die Tiefe des Saals.
Alle Mumien starrten aus leeren Augenhöhlen zurück. Alle Mumien warteten mit leeren Händen.
Am Ende des langen, dunklen Saals weinte jemand.
»Aaahh …«, machte es.
»Ooohh …«, klagte jemand.
»Iiihh …«, weinte eine leise Stimme.
»Das ist … Mensch, das ist doch Pip! Ich hab ihn
nur einmal weinen hören, aber das ist er. Pipkin. Er
ist hier in der Katakombe gefangen.«
Die Jungen starrten angestrengt.
Und dreißig Meter entfernt, im hintersten Winkel
der großen Höhle, sahen sie eine Gestalt, die sich in
eine Ecke drückte und … sich bewegte. Die Schultern zuckten. Der Kopf war gesenkt, und vor das Gesicht waren zitternde Hände geschlagen. Und hinter
den Händen war ein Mund, der klagte und Angst hatte.
»Pipkin?«
Das Weinen hörte auf.
»Bist du das?« fragte Tom.
Eine lange Pause, ein zitterndes Atemholen, und
dann:
»Ja.«
»Pip, um Himmels willen, was machst du hier?«
»Ich weiß nicht!«
»Komm raus.«
»Ich … ich kann nicht. Ich hab Angst!«
»Aber wenn du hier bleibst …«
Tom hielt inne.
Pip, dachte er, wenn du hier bleibst, mußt du für
immer bleiben. In dieser Stille, dieser Einsamkeit.
Dann
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