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Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel
Autoren: Brigitte Blobel
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heftig, als ich auf der baumlosen Chaussee gegen den Wind ankämpfte. Immer wieder rutschte ich auf der gewölbten Fahrbahn in den Graben, rappelte mich auf, klopfte den Schnee ab, schob das Rad zurück und strampelte weiter. Die Autos kamen mir mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen, Schneeflocken klebten an meinen Wimpern. Vielleicht waren es auch zu Eis gefrorene Tränen. Ich strampelte gegen die Uhr an, und ich wusste, ich würde den Kampf verlieren.
    Gerade als ich in die Einfahrt zum Erlenhof einbog, hörte ich den Gong, das erste Zeichen für den Stundenbeginn. Der Hausmeister, wie ein Eskimo in einen Anorak mit Pelzkappe gehüllt, fegte den Schnee von der Freitreppe.
    Ich warf mein Fahrrad einfach hin und spurtete die Stufen hoch.
    Der Mann unterbrach seine Arbeit, um mich anzustarren. »Jetzt ward dat aver tid!«, knurrte er, als er mir Platz machte. Damals wusste ich noch nicht, dass der Hausmeister von den Schülern »Fietje« genannt wurde. »Fietje« hießen früher oft die jüngsten Matrosen auf den Walfangschiffen. Wenn die Kapitäne und Offiziere zu faul waren, sich den richtigen Namen zu merken. So wie früher in Deutschland alle Hausmädchen »Emma« hießen. Unser Hausmeister redete immer Plattdeutsch, auch mit Leuten, die das nicht verstanden.
Das war ihm egal. Er war stolz auf seinen norddeutschen Dialekt.
    »Tut mir leid, aber die Straße war so glatt!«, keuchte ich an ihm vorbei.
    »Und wat wör mit din Fahrrad? Soll dat hier liegen blieve?«, rief er. Ich tat, als habe ich es nicht gehört. Im Laufen zog ich die Mütze vom Kopf und schüttelte den Schnee ab. Zerrte mit klammen Fingern an dem Reißverschluss.
    Ich musste gegen den Strom der Schüler anlaufen, die in ihre Klassen gingen. Ich sah Lehrer mit Mappen und Büchern unter dem Arm, die mich erstaunt musterten, als sie mir Platz machten. Keiner sprach mich an.
    Mein Gesicht glühte inzwischen. Das Herz schlug wie verrückt.
    Ich hasse es, zu spät zu kommen, in meiner alten Schule war ich kein einziges Mal zu spät gekommen! Ich finde es furchtbar, in die Klasse zu treten, wenn alle anderen schon an ihrem Platz sind. Wenn dich fünfundzwanzig Augenpaare anstarren und der Lehrer seinen Satz unterbrechen muss. Und dich fragt, was los gewesen ist, und du musst dir irgendeine Ausrede aus den Fingern saugen. Dabei kommt es doch immer auf dasselbe hinaus: Du bist zu spät aufgestanden. Und in meinem Fall: Du hättest früher losfahren sollen.
    Der zweite Gong. Auf einmal wurde es ruhiger in den Gängen.
    Noch einzelnes Fußgetrampel, das Schlagen einer Tür, das Zufallen eines Fensters.
    Nach Atem ringend, stand ich endlich vor dem Lehrerzimmer. Dr. Simonis war nicht mehr da! So ein Mist! Trotzdem hatte ich noch eine winzige Hoffnung, dass er drinnen auf mich warten könnte. Ich klopfte.

    Keine Antwort.
    Ich klopfte ein zweites Mal, jetzt so laut, dass es mein Herzpochen übertönte.
    Wieder keine Reaktion.
    Zaghaft drückte ich die Klinke herunter - abgeschlossen.
    O Gott. Er war im Unterricht, und ich wusste nicht einmal, wo sich der Klassenraum befand. Ich schaute mich ratlos um.
    Da tauchte am Ende des Ganges der Hausmeister mit seinem Besen auf. Er winkte, als er mich sah, und beschleunigte seine Schritte.
    Er kam irgendwie drohend auf mich zu. Ich wich zurück.
    »Hey«, rief er, »hast du nicht gehört, dass ich dir nachgerufen habe?«
    Ich schüttelte den Kopf, ich hatte einen Kloß im Hals.
    »Wir haben einen Unterstand für die Fahrräder«, sagte er wütend. »Die wirft man hier nicht in der Gegend rum. Entweder ich melde das oder du bringst das Fahrrad jetzt sofort an seine Stelle.« Vor Aufregung war er ins Hochdeutschse gewechselt.
    Er blieb vor mir stehen. Er hatte aufgeplatzte Äderchen an den Wangen und war unrasiert. Sein Atem war eine geballte Ladung aus Kaffee- und Knoblaucharoma. Ich hasse Knoblauch, ich mag ihn weder essen noch riechen, obwohl mein Papa steif und fest behauptet, dass man hundert Jahre alt werde, wenn man jeden Morgen vor dem Frühstück eine rohe Knoblauchzehe esse.
    »Es tut mir leid«, sagte ich flehend, »aber ich bin zu spät. Das ist mein erster Tag hier. Und ich weiß nicht, wo meine Klasse ist... Und der Lehrer, bei dem ich mich hier melden sollte, ist nicht mehr da. Es ist abgeschlossen...« Ich
rüttelte wie ein kleines verirrtes Kind an der Tür, ich hasste mich selbst, weil ich merkte, dass mir die Tränen kamen. Ich meine, ein Mädchen in meinem Alter weint vor dem Lehrerzimmer! Das ist
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