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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Autoren: PeP eBooks
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›Leben‹ heißt.«
    Dick war in Form. Er kickte Schneereste vor sich her und ballte die Fäuste in den Taschen seines Parkas. Es sah aus, als trüge er zwei schwere Kugeln, die seine Schultern herabzerrten.
    Oberhalb des Bahndammes sah ich durch die kahlen Zweige einer Allee prächtige Villenfassaden. »Hier scheint mal nicht wenig Geld gemacht worden zu sein«, sagte ich und deutete auf die Häuser.
    »Die Miniaturschlösser der Tuchfabrikanten. Heute kriegt keiner mehr diese Kästen im Winter warm. Viele stehen leer.«
    Wir hatten inzwischen das Seeufer erreicht. Ich hatte die weite, an den Rändern gezackte Fläche bereits vom Zug aus gesehen. »Er ist wie ein Eichenblatt geformt«, sagte Dick. »Zum Ruhme des Seins, ich meine, des alten Fürsten. Das da hinten ist das Schwanenhaus.« Er zeigte auf ein stattliches Miniaturschlößchen, das sich ein Stück weit vom Ufer entfernt auf Stelzen im See erhob.
    »Dort soll es einst einen wahren Hofstaat an Enten, Gänsen, schwarzen und weißen Schwänen, Möwen und sogar Flamingos gegeben haben, ein gefiedertes Abbild des Regimes sozusagen. Jetzt ist nur noch ein einsamer Schwan da, dem es offenbar gerade dreckig geht.«
    Er deutete auf eine Gruppe dunkel vermummter Gestalten, die in einiger Entfernung auf der Eisfläche standen. Zwischen ihnen sah man die weißen Schwingen des Vogels flattern. Federn stoben. Von irgendwoher kamen langgezogene Töne. Weder menschlich noch tierisch, eher wie von einem exotischen Instrument.
    Dann hörten wir kurze, harte Schläge, sahen ein Beil in der Hand eines Mannes blitzen. Dick war stehengeblieben. Er hielt mich am Jackenärmel fest.
    »Laß sie erst fort«, sagte er.
    Die Gruppe hatte sich in Bewegung gesetzt. Sie trug den großen, weißen Vogel zwischen sich. Zwei hatten seine Schwingen gepackt, einer den langen Hals unterhalb des Kopfes. Der Schwan lebte, so wie er sich wand, aber sein Gesang war verstummt, vielleicht, weil sie seinen Schnabel zugebunden hatten.
    Ich sah, wie die Männer durch eine Unterführung unter dem Eisenbahndamm verschwanden. Dick zog mich weiter. Wir näherten uns der Stelle, wo die Männer gestanden hatten. Das Eis war hier anders. Es war frischer, glatt und dunkel wie ein Nachthimmel. Und mitten in dieser polierten Onyxschwärze zwei gelbe Stümpfe: die im Eis eingefrorenen Füße des Tieres.
    »Warum haben die das gemacht, Dick, warum nur?« Mir war übel. Dick sah mich wieder mit jener abgrundtiefen Trostlosigkeit an, die mich schon einmal an ihm erschreckt hatte. »Weißt du, das Fleisch von Singschwänen soll sehr gut sein. Und in vier Tagen haben wir Weihnachten.«
    Er wandte sich ab und ging vor mir über die gefrorene Seefläche auf die Unterführung zu. »Dick«, sagte ich. »Ich habe keine Lust, diesen Männern noch einmal zu begegnen.«
    »Die sind längst fort. Ich möchte in die Kneipe dort hinter dem Bahndamm. Wir haben uns jetzt einen Schluck verdient, findest du nicht?«
    Das Lokal war nach hiesigen Vorstellungen wohl sehr gemütlich eingerichtet. Es gab nur ein einziges kleines Geweih an der Wand. Daneben hing ein Kalender, auf dem für sommerliche Freuden in der Karibik geworben wurde.
    Im vorderen Raum saß ein einzelner Gast am runden Stammtisch. Er wirkte betrunken. Immer wieder hieb er die flache Hand auf die Tischplatte und murmelte dabei unverständliche Sätze. Wir gingen in den Nebenraum, in dem Papiertischtücher signalisierten, daß man hier sein Essen serviert bekam.
    »Er ist nicht tot«, tönte es unartikuliert von nebenan. »Er lebt, er lebt, er lebt!« Jedesmal das aggressive Klatschen der Hand auf dem Tisch. »Ich habe ihn gesehen, ich selbst habe ihn gesehen. Er lebt, auch wenn ihn alle für tot halten.«
    »Wovon redet er?« fragte ich Dick.
    »Weiß der Henker, wahrscheinlich von Barbarossa, oder von Hitler, oder vom letzten deutschen Kaiser. Auf jeden Fall von irgendeinem Deutschling.«
    Der Wirt kam und nahm unsere Bestellung entgegen. Ein junger Mann mit blondem Schnauzer. Es wirkte devot auf mich, wie er nach unserem »Begehr« fragte, oder war es Ironie? »Zwei Bier, zwei Korn und für mich ein Kalbsschnitzel à la Holstein«, sagte ich. »Einen halben Broiler«, sagte Dick.
    Ich hatte mir eingebildet, bei einem Stück Fleisch könne man nicht viel falsch machen, aber als nach unendlich langer Zeit mein Essen kam, wurde ich eines Besseren belehrt. Unter einem Hünengrab olivfarbener Dosenerbsen, gekrönt von einem verdächtig gelb aussehenden Spiegelei, legte
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