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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen
Autoren: P Fogli
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Morgen früh um Viertel vor zwölf.«
    Sie hatte noch nicht einmal die Antwort abgewartet. Ich hockte da, den Hörer in der Hand, auf dem Display ein Telefonat von sechsundfünfzig Sekunden mit einem unbekannten Teilnehmer.
    Normalerweise hätte ich sie gleich zum Teufel geschickt und einfach aufgelegt. Eine Unbekannte, die mich mit anonymer Nummer anruft und ungeheuer dringend mit mir reden muss, aber nicht rausrückt, worüber. Zum Hinlegen und Weiterpennen.
    Stattdessen hatte ich mir einen Kaffee gemacht. Und beim Befüllen der Kaffeemaschine hatte ich beschlossen, zu demTreffen zu gehen. Beim zweiten Kaffeelöffel grübelte ich bereits darüber nach, wie mein Leben mit dem der jungen Frau in Berührung gekommen sein mochte. Und vor allem, was ihr so große Angst machte.
    Man hatte es gespürt. Im Tonfall, im Zögern, das jedem Satz voranging. In den Sätzen selbst.
    Ich kann mir keine Scherze erlauben.
    Diese Worte hatten mich davon abgehalten, das Gespräch zu beenden. Sie hat sie gewispert, zwingend wie ein Atemzug. Seit dem Moment habe ich sie im Kopf, selbst jetzt, wo es fast soweit ist und ich anfange, mich umzublicken und zu raten, welche der Unbekannten um mich herum die Person sein könnte, auf die ich warte.
    Ich bin nervös. Ich gehe auf und ab, werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Verkehr, die Menschen, die ein bestimmtes Ziel zu haben scheinen. Von hier aus betrachtet könnte man fast glauben, die Welt hätte noch einen Sinn.
    Ich weiß nur zu gut, dass das nicht stimmt. Ich weiß es seit langer Zeit.
    Es ist fünf vor zwölf. Ich gehe bis zum Ende des Flurs, und mich beschleicht der Gedanke, dass ich die Möglichkeit, es könne sich um einen Scherz handeln, vielleicht doch etwas leichtfertig verworfen habe. Ich habe auch nicht daran gedacht, jemanden anzurufen, um festzustellen, ob es wirklich eine Anwältin namens Michela Santini gibt.
    Als ich abermals auf die Uhr sehe, rempelt mich ein Typ an. Er hat die Hände in den Taschen vergraben und murmelt im Vorbeigehen eine Entschuldigung.
    Und dann, rund zehn Meter von mir entfernt, sehe ich sie. Sie blickt mich an, nur ganz kurz. Es reicht, um zu verstehen, dass sie auf mich wartet.
    Eine junge Frau, blass wie die Herbstsonne.
     
    Im dritten Stock ist es zu hell und alle starren ihn an.
    Der Mann weiß, dass das nicht stimmt, aber er wird dasGefühl nicht los. Sie sind seinetwegen hier. Alle. Sie sind hier, um ihn an dem zu hindern, was er tun muss. Sie sind hier, um ihm das Leben zu ruinieren, um sein Vorhaben zu vereiteln, alles zunichtezumachen.
    Er schluckt. Denkt nach. Atmet. Denkt nach.
    Das Bild in seinem Kopf ist glasklar. Sie lächeln alle beide. Ein Lächeln, das er nur zu gut kennt. Ein Lächeln, das er nicht zerstören will.
    »Sie werden weiterlächeln«, flüstert er.
    Ein Typ dreht sich um und fragt ihn etwas. Er hört nicht zu. Der andere zischt etwas, das auch eine Beleidigung sein könnte.
    Details, für die er keine Zeit hat.
    Er bewegt die Hand in der Tasche. Eine instinktive Regung, um die Angst zu verjagen und den Moment einzuleiten. Er blickt stur geradeaus, entdeckt sein Ziel, denkt, dass er genau dort schon einmal hineingegangen ist, vor vielen Jahren, und dass man absolut machtlos ist, wenn das Leben einen verarschen will.
    Er beschleunigt den Schritt, rempelt einen an, der mitten im Flur steht, entschuldigt sich, witscht vorbei. Er fängt an zu zählen.
    Früher hatte das geholfen, um nicht aus dem Takt zu geraten.
    Früher konnte er sich damit bei der Stange halten, wenn die Spannung ins Unermessliche stieg.
    Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
    Er muss nur tun, was er am besten kann.
    Der letzte Gedanke, bevor er den Saal betritt, ist, dass dies der Raum ist, in dem sein Leben enden wird.
     
    Der Angeklagte ist ein gedrungener Kerl mit rasiertem Schädel. Er heißt Nicola Reale, ist Mitte zwanzig, hat einen Brilli im rechten Ohr und trägt eine rotzige Miene zur Schau, um seinen Schiss zu überspielen.
    Die junge Frau sieht ihn hereinkommen, macht mir einZeichen, auf sie zu warten, und lässt ihn näher treten. Wir haben noch nicht miteinander gesprochen. Doch inzwischen spielt das keine Rolle mehr. Ich werde bis zum Ende der Verhandlung bleiben und mir anhören, was sie zu sagen hat.
    Ein Blick aus der Nähe hat genügt, um zu begreifen, dass ihr Anliegen wirklich wichtig sein muss. Man sieht, dass sie seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen hat. Die Art, wie sie jeden Anwesenden im Saal mustert, zeigt, dass sie überall eine
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