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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen
Autoren: P Fogli
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erfordern scheint.
    »Ganz genau, Leuten wie dir. Leuten, die sich einen Dreck um die Welt scheren. Wann hast du das letzte Mal eine Zeitung aufgeschlagen, Papa? Wann hast du dich das letzte Mal gefragt, was eigentlich los ist?«
    Ich weiß keine Antwort. Auch nicht auf ihre Wut. Ich weiß keine Antwort, die mein schlechtes Gewissen lindern oder ihre Meinung von mir ändern könnte. Also sage ich nichts. Wie immer warte ich ab, dass die Flut steigt und alles überspült.
    »Du schreibst Kinderbücher, Papa. Das ist alles, was du willst. Aber die Welt dreht sich weiter. Du bist nicht besser als meine Kommilitonen. Hauptsache, man hat ein Mädel, genug Kleingeld, um samstags Pasta essen zu gehen, ein Auto, das fährt, und ein Fotohandy mit mindestens dreißig Megapixeln, wozu auch immer. Oder man kann sich Schuhe mit möglichst hohen Absätzen leisten, auf denen man sich fast den Hals bricht.«
    »Ach komm, so seid ihr doch gar nicht alle …«
    Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch und lässt ein messerscharfes Lächeln aufblitzen.
    »Klar sind wir nicht alle so. Natürlich nicht. Aber was zählt das schon, wenn die Mehrheit mindestens so schlimm ist? Ein Typ, der mit einer Bekannten von mir zusammen ist, kauft Prüfungsergebnisse.
Immer.
Er hat rausgekriegt, wie’s geht, hat genügend Kohle und macht’s einfach. Ich hab ihn mal gefragt, warum, und er hat gemeint, so sei es doch einfacher, er habe keinen Bock, sich über die Bücher zu hängen, er wolle nur den Abschluss kriegen, damit sein Vater die Klappe hält, und dann würde er weitersehen. Das Ergebnis zählt. Gewinnen, als wäre alles ein Fußballspiel. Er meint, nur Idioten schlagen sich die Nacht mit Lernen um die Ohren.«
    Sie schweigt. Mustert mich abwartend.
    »Echt tiefsinnig, was?« Sie macht eine Pause. »Ich hab mal geglaubt, früher oder später fallen solche Ärsche auf die Schnauze. Man müsse nur abwarten, irgendwann wären sie dran. Heute glaube ich das nicht mehr. Dieses Land gehtgerade vor die Hunde, Papa. Und du erzählst noch immer vom bösen Wolf.«
    Ich trinke einen Schluck Bier.
    »Früher haben dir meine Geschichten gefallen.«
    »Ja. Als ich noch geglaubt habe, die Welt sei ein Märchen.«
    Sie verstummt, isst eine Gabel Nudeln. Dann sieht sie mich an, mit einem routinierten, vermeintlich beiläufigen Blick. Ihre Mutter machte es genauso, wenn sie mich auf die Palme bringen wollte.
    »Aber, na ja, wie heißt es so schön bei Manzoni: Wer keinen Mut hat, kann sich auch keinen verleihen.«
    Ich lächele. Eine Reverenz vor ihrer klassischen Bildung und der messerscharfen Raffinesse, mit der sie mich zum Feigling abgestempelt hat.
    Ich antworte nicht, es wäre zwecklos. Diese Diskussion haben wir schon viel zu lang und zu oft geführt. Vielleicht sollte ich ihr einfach recht geben, doch dann würde ich sie noch mehr enttäuschen.
    Ich kann ihr nun mal keinen Vorwurf daraus machen, dass ihre Mutter ihr fehlt.
    Mir fehlt sie auch.
    Könnte ich die Toten auferwecken, hätte ich das Problem schon längst gelöst.
    »Ich habe einen Menschen sterben sehen.«
    Ich weiß auch nicht, warum ich das sage. Es rutscht mir einfach so raus. Giulia ist die Erste, der ich es erzähle. Sie legt die Gabel hin. Sofort ist ihr Gesicht ein anderes.
    »Wann?«
    »Vor einer Woche. Ein Typ hat sie erschossen. Sie und noch drei andere.«
    »Die aus dem Gericht … Was hast du denn da zu suchen gehabt?«
    »Willst du mich noch nicht einmal fragen, ob ich Angst hatte?
    »Klar hattest du Angst. Los, erzähl.«
    Und ich erzähle. Ich fange damit an, wie der Typ die Schießerei eröffnet, und gehe dann zurück zum Telefonat.
    »Ich habe keine Ahnung, was sie mir sagen wollte.«
    Sie bemerkt die Lüge nicht.
    »Das lässt sich doch bestimmt herausbekommen. Du bist Journalist, find’s heraus.«
    Ich bin Journalist.
    Sie sagt das mit einer solchen Begeisterung, dass ich einen Moment lang selbst daran glaube. In Wahrheit konnte ich es noch nie leiden, wenn sich jemand so präsentiert: Ich bin Journalist, ich bin Schriftsteller, ich bin Arzt.
    Außerdem ist das Verb falsch konjugiert. Ich war Journalist, und das nur sehr kurz. Und es war nicht meine Entscheidung, es nicht mehr zu sein. Mit dem Tod ihrer Mutter war ich plötzlich allein, mit dem unsichersten Job der Welt, einer achtjährigen Tochter und dem brennenden Wunsch, mich nicht von meinem Vater aushalten lassen zu müssen.
    Die Kindergeschichten, wie sie sie nennt, waren das einzig Gute in einer sehr unglücklichen
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