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Blaulicht

Blaulicht

Titel: Blaulicht
Autoren: Nacke
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umgelegt und Strom würde schlagartig durch Gliedmaßen fließen, Beine bewegen, Füße voreinander setzen und über den glühenden Straßenbelag gehen lassen, eine Hand fest um etwas Langes, Spitzes schließen, das Heinrich Zintl nicht genau erkennen kann, weil sich die Sonne darin spiegelt. Dann sieht er den Mann, der sein Fahrrad gerade aus dem Hauseingang schiebt, sein Gesicht kann er nicht erkennen, der Mann trägt einen Fahrradhelm, aber Zintl weiß, dass es der Gerlach ist, der Studienrat, der beim Kobergerplatz-Fest immer ein paar Kisten Apfelsaft aus eigener Ernte spendiert. Die junge Frau geht genau auf ihn zu, der Lehrer ruft etwas, während sie sich ihm nähert, legt den Kopf leicht auf die Seite wie jemand, der nicht glauben kann, was er sieht, ruft: »Sandra, bist du …«, der Satz wird ihm abgeschnitten, sie sticht einmal zu, zweimal, und dann spritzt auch schon das Blut auf den Gehsteig und bildet einen schillernden roten See, in dem der Mann jetzt kniet, die Hand fest auf seine Kehle gepresst. Nun kommt Heinrich Zintl die eigene Kehle wieder ins Bewusstsein, und er schreit aus seinem Fenster im ersten Stock der Kaulbachstraße wie ein Wahnsinniger, schreit   Feuer   und   Mord , schreit   zu Hilfe   und immer wieder   mein Gott, mein Gott, mein Gott!   Und obwohl der Stadtteil noch vor wenigen Augenblicken vollkommen menschenleer unter einer grausam schweigenden Hitzeglocke zu dämmern schien, kommt schlagartig Leben in die Szene, rennen zwei Bauarbeiter mit bloßem Oberkörper die Straße runter und auf die knieende Gestalt zu, packen das schwarze Gerippe von Frau, das mit hängenden Schultern über ihm steht, und schlagen ihr das tropfende Messer aus der Hand, das mit einem hellen Klirren auf den Asphalt fällt. Kurz darauf hört man auch schon die erste Sirene, sieht das erste Blaulicht durch den flirrend weißen Nachmittag einen Weg sich bahnen.
     
    *
     
    Als die Stadtplaner Ende der Siebziger Jahre den Jakobsplatz neu anlegten, hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit keiner von ihnen Gedanken darüber gemacht, dass die runde Form unter bestimmten Bedingungen fatale Ähnlichkeit mit einer Herdplatte bekommen könnte. Wenn die Sonne nur lang genug und möglichst senkrecht darübersteht, heizt sich zunächst das dunkle Pflaster auf, sodass es Hunden, die von ihren Besitzern ausgerechnet hier Gassi geführt werden, schmerzhaft unter den Ballen brennt. Dann folgt die Hitze den Naturgesetzen, steigt nach oben und wabert zwischen Sankt Elisabeth und Sankt Jakob hin und her wie ein in siedendem Öl ausgebackener ökumenischer Pfannkuchen. Unvorsichtigen Tauben, die den Platz nicht weiträumig meiden, werden die Bäuche derart erhitzt, dass sie nur noch hartgekochte Eier legen, und denjenigen Menschen, die nicht das Glück haben, im Dienste des Herrn zu stehen, verdampft es schlicht und einfach das Gehirn. Polizeibeamte stehen nicht im Dienste des Herrn, sondern im Dienste des Innenministeriums, und deshalb hat die Jakobswache auch Außenmauern, die deutlich dünner sind als die von Kirchen, weshalb die pfannkuchengewordene Hitze sich mühelos ihren Weg in Büros bahnen kann, um die dort Arbeitenden in den Wahnsinn zu treiben.
    Dies sind in etwa die Gedanken, die Helmut Mattusch durch den Kopf gehen, als er versucht, den richtigen Winkel zwischen sich, dem Tischventilator hinter seinem Rücken und all dem Papier zu finden, das sich in ungewohnt hohen Stapeln auf seinem Schreibtisch türmt. Mattusch ist ein gewissenhafter Mensch, nicht brillant, aber sorgfältig, gut organisiert und zuverlässig. Aus genau diesem Grund ist er auch der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen geworden, und er schätzt es ganz und gar nicht, wenn ihn etwas wie diese Hitzewelle aus der Balance wirft. Zwei seiner Leute sind wegen massiver Kreislaufprobleme ausgefallen, zwei weitere im Urlaub, weshalb sich die Arbeit momentan auf viel zu wenige Schultern verteilt, und ausgerechnet er ist verantwortlich für die Verteilung dieser Last. Wenn in vier Wochen die Schulferien beginnen und all die Kollegen mit Familie in Urlaub gehen, bricht hier endgültig das Chaos aus, denn das Verbrechen schert sich einen Dreck um Urlaubspläne – die Haare würden Mattusch vor Ärger zu Berge stehen, wenn sie das nicht sowieso schon in einem attraktiven Dunkelgrau von Natur aus täten.
    Die frischgebackene Kommissarin, die sich heute bei ihm vorgestellt hat – wie war noch mal ihr Name? – macht einen patenten Eindruck, und ihre
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