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Blaulicht

Blaulicht

Titel: Blaulicht
Autoren: Nacke
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geschieht. Als Sandra noch hier wohnte, hat sie ihn oft gehört. Nachdem Sandra gegangen war, noch viel öfter:   Geh auf dein Zimmer, sofort!
    Die Zimmer der Mädchen liegen im ersten Stock, die Küche im Parterre. Die Küche ist bis an die Decke gefliest – weiße Fliesen, zwischendrin ein paar blaue Akzente, Bilder von Szenen aus dem holländischen Leben: eine Frau mit Holzschuhen, zwei Kinder mit Eimern voller Fische auf einem kleinen Markt, ein anderes Kinderpaar mit Tulpensträußen auf dem Arm. Putzige Idyllen in Blau und Weiß. Manchmal träumt Leonie sich in diese Welt, hat Holzschuhe an den Füßen, Tulpen auf dem Arm und eine große Schwester an ihrer Seite.
    Leonie war noch nie in Holland, aber sie weiß, dass die Fliesen aus Delft stammen sollen. Sie sind nicht wirklich aus Delft, das hat ihr Sandra irgendwann einmal erzählt, aber sie sollen so tun als ob. Also tun sie so   als ob . Genauso wie die falschen Brüsseler Spitzen vor den Fenstern, der Terrazzoboden aus Kunststoffgranulat im Eingangsbereich, der in diesem Hause schon immer Entree genannt wurde, und die Bauernschränke, die auf antik gebeizt wurden.
    Echt sind allein die Geräusche, die all die Dinge machen. Das Knallen eines Schädels auf Holz, das Reißen einer Gardine, das trockene Platschen, das ein Körper von sich gibt, wenn er auf einen Terrazzoboden geschleudert wird. Und die schönen weißblauen Fliesen verstärken alles, lassen das ganze Haus zu einem dröhnenden Klangkörper werden, tragen das Knallen, das Reißen, das Platschen und vor allem das Geschrei ihrer streitenden, schlagenden Eltern nach oben, dorthin, wo man schlafen möchte und träumen von einer glücklichen Familie in einer hübschen holländischen Stadt.
     
    Kalz hat bemerkt, wie das zarte Mädchen mit den weizenblonden feinen Haaren unter dem Befehl ihrer Mutter zusammengezuckt ist, wie sich ihre hellblauen Augen für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelten, so als wäre eine Wolke in Zeitraffertempo über einen Bergsee gezogen.
    »Bleib bitte noch für einen Moment hier, Leonie«, sagt Kalz. »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen.«
    Das Mädchen zögert, schaut zunächst ihre Mutter an, dann ihn.
    »Wann hast du deine Schwester zuletzt gesehen?«
    »Ich weiß nicht … vor drei Jahren … ungefähr. Was ist denn passiert? Fehlt ihr was?«
    Sandra hat also schon seit drei Jahren keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie! Interessant, aber in Anbetracht dieser Walküre von Mutter absolut nachvollziehbar; allerdings dürfte dieser Umstand die Ermittlungen in diesem Fall nicht gerade erleichtern. Jetzt geht es aber erst einmal darum, dem sowieso schon ängstlichen Mädchen, das vor ihm steht, irgendwie zu sagen, was passiert ist, ohne sie noch mehr zu ängstigen. Die Einzelheiten würde sie sowieso noch früh genug erfahren.
    »Nein, ihr fehlt nichts«, lügt er deshalb, »Sandra hat aber ihrem ehemaligen Musiklehrer sehr wehgetan. Kennst du Herrn Gerlach auch?«
    »Ja«, Leonie schaut auf den Boden und beißt auf ihrer Unterlippe herum.
    »Er unterrichtet auch meine jüngere Tochter – ein hervorragender Pädagoge«, lässt sich nun auch die Kovács wieder zu einem Kommentar herab, selbstverständlich hält sie es nicht für nötig, Kalz dabei anzusehen.
    »Stimmt das, Leonie? Ist Herr Gerlach ein guter Lehrer?«
    Ein kleines, aber bestimmtes Kopfnicken beantwortet die Frage.
    »Hören Sie, was soll diese ganze Fragerei? Meinen Sie, wir würden unsere Tochter in eine zweit- oder drittklassige Schule mit stümperhaftem Personal schicken?«
    »Personal« – interessante Bezeichnung für Gymnasiallehrer, denkt Kalz, beschließt aber, die Bemerkung von Barbara Kovács zu ignorieren und lieber weiter bei ihrer Tochter nachzuhaken.
    »Leonie, du sagtest, Sandra wohnt schon seit drei Jahren nicht mehr hier?«
    Wieder nickt das Mädchen nur mit dem Kopf, umso lauter fährt die Kovács abermals dazwischen.
    »Sie kann jederzeit kommen, wenn sie will. Wenn sie nicht kommt, ist das doch wohl ihre Sache, oder?« Ihre Stimme klingt jetzt schneidend kalt und hart wie Splitter von Eiswürfeln in einem Glas aus Bleikristall, unberührbar, unerbittlich, trotzdem registriert Kalz den drohenden Unterton darin, wie ihn auch eine gereizte Hornisse von sich geben könnte oder eine Gottesanbeterin, kurz bevor sie zupackt.
    Kalz bleibt äußerlich ungerührt, will sich nicht anstecken lassen von der nervösen Unruhe, die sich immer weiter im Raum ausgebreitet hat, in jeden Winkel
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