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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Autoren: Vea Kaiser
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die richtige Lektüre. Es handelte sich nicht um ein komplexes naturwissenschaftliches Werk, sondern um eine Chronik, einen Bericht über die Entdeckungen der Wurmforscher im k.   k. Hof-Naturalienkabinett in der Hauptstadt. Als diese Männer sich an die Arbeit gemacht hatten, war kaum etwas über Würmer bekannt gewesen. Und somit begannen die Aufzeichnungen Schreibers günstigerweise auf der Höhe von Johannes’ Wissensstand. Der Schnitzer verbrachte den Tag in der Bibliothek und wanderte am wackeligen Lesetischchen dem einfallenden Sonnenlicht hinterher. Auf dem Nachhauseweg fühlte er sich bereits ein bisschen weniger abstoßend: In der Hauptstadt hatte vor 150   Jahren fast jeder einen Wurm gehabt, der Kaiser Franz hatte aus Sorge um seine Untertanen sogar befohlen, dass alle Naturforscher, welche an jenem Gegenstand Interesse nehmen, mit dem k.   k. Naturaliencabinet in Verbindung treten und durch Mittheilung ihrer schon gemachten und künftigen Beobachtungen und Entdeckungen zur Vervollkommnung und kräftigeren Wirkungsfähigkeit der hiesigen Anstalt, zur Vervollständigung unserer Sammlung und auf diese Weise zur Bereicherung und Vervollkommnung der k.   k. Erforschung der im Menschen lebenden Parasiten – zum Wohle aller Völker – beyzutragen.
    Sogar Wettstreite um die richtige Behandlung der wurmbefallenen Patienten hatte es unter den Ärzten gegeben. Johannes musste zugeben, dass es ihn bei manchen Schilderungen Schreibers ziemlich geschaudert hatte. Als der Kranke mit einer Art Heroismus die Medikamente zu sich nahm, sprang er plötzlich aus dem Bette, um sich auf den Leibstuhl zu setzen. Er erblaßte, zitterte und bebte, ein kalter Todesschweiß bedeckte den ganzen Körper. Beinahe hätte Doktor Bremser triumphiert, allein seine langsame Behandlungsweise strafte seine Freude durch einen etwa in acht Tagen erfolgten Abortus bei der von ihm behandelten Frau, bei welcher er nichts weniger als eine Schwangerschaft vermutet hätte.
    1959 wurde der Herbst von einer wochenlangen Schlechtwetterfront eingeleitet. Der Wind blies ein Tiefdruckgebiet in das Angertal, das sich an den Sporzer Alpen anstaute wie ein zusammengedrückter Wattebausch, bis die Wolken am Großen Sporzer zu kleben schienen. Johannes ging nun öfter in die Bibliothek. Die universelle Gemeindeamtsbedienstete hatte ihm zwar empfohlen, die Bücher auszuleihen, aber täglich von 8   :   30 bis 18   :   00   Uhr an seinem Platz zu sitzen und sich durch die Erforschung der Helminthen zu lesen, so als wäre man selbst am Sezieren, Analysieren, Klassifizieren und Präparieren beteiligt, fühlte sich für ihn wie Arbeit an. Schnitzen war mit dem lädierten Arm noch nicht möglich, und überhaupt hatte Johannes den Eindruck, alles, was er zurzeit Nützliches tun könne, sei lesen. Der Nachbar Ötsch von links hatte währenddessen im Lästern über Johannes’ Leselust eine neue Leidenschaft gefunden, doch Johannes hatte Elisabeth versprochen, sich bis zur Geburt des Kindes auf keine Prügelei mehr einzulassen. Nachdem der Regen eingesetzt hatte, machten sich jedoch auch Johannes’ Wirtshausfreunde über seine Präsenz in der Bibliothek lustig.
    »Lasst di dei Frau nimmer zuwi und wüllst hiazn a Pfaff werdn?«, grölten der vorlaute Großbauer Anton Rettenstein, der dicke Bürgermeistersohn Friedrich Ebersberger, der Lebensmittelgreißler Wilhelm Hochschwab und der sonst so freundliche Briefträger Gerhard Rossbrand, obwohl der St.-Petri-Pfarrer gar nichts für Bücher übrighatte. Er nutzte Lektüre lediglich als Strafe für Sünder und widmete sich außerhalb der Messzeiten der Renovierung des Kirchturmes. Johannes beachtete all die Häme nicht. Wegen des starken Regens hatten die Männer nichts anderes zu tun, als vom Bett ins Wirtshaus zu stolpern. Sogar die Gendarmen tranken mittags ihr erstes Bier, da zur Regenzeit ohnehin nie etwas passierte, und wenn, dann im Wirtshaus.
    St.   Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem von einer Einnahmequelle lebte – den weltweit einzigartigen Adlitzbeerenbaumbeständen. Nirgendwo auf der Welt gab es derart viele und hohe Adlitzbeerenbäume, deren Ertrag genug einbrachte, um ein ganzes Dorf zu erhalten. Die St.   Petrianer hatten gar keine Verwendung für all ihre Beeren, doch im Rest der Welt waren sie ein gefragtes, teures Gut zur Herstellung spezieller Medikamente. Obwohl jeder Bewohner neben der Adlitzbeerenwirtschaft noch einen anderen Beruf ausübte, halfen zur Erntezeit alle
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