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Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot
Autoren: Bruno Morchio
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hatte. Auch sie war seit einigen Tagen verschwunden. Zwar wagte es keiner laut auszusprechen, aber alle waren überzeugt, dass sie von den Schwarzen Brigaden umgebracht worden war.
    Die Fahrzeugkolonne bewegte sich wie ein Leichenzug den Hügel von Sant’Alberto hinunter, um dann an der Via Merano ins Stadtzentrum von Genua abzubiegen. Vorbei an der Tabakfabrik, der Schiffswerft und dem Bahnhof. Sie wusste, dass sie nicht auf eine plötzliche Befreiungsaktion ihrer Kameraden hoffen konnte. Ein Postkutschenüberfall aus einem amerikanischen Film fiel ihr ein, den sie vor Jahren im Splendor-Kino gesehen hatte. Doch selbst diese tollkühnen Burschen wären heute ohne Chance. Die Deutschen würden sie abknallen wie die Hasen. Sie passierten Cornigliano und Sampierdarena, düster und menschenleer. Vorbei an geschwärzten Ruinen, Zeugnissen der verheerenden amerikanischen Luftangriffe. Plötzlich stieg Verzweiflung in ihr auf. »Was ist das nur für ein Leben?«, fragte sie sich. »Wenn du nicht auf der Straße von den Faschisten oder den Deutschen abgeknallt wirst, erwischen dich die amerikanischen Fliegerbomben.«
    |13| Sie musste an ihren Vater denken, der ihr immer vom Schicksal der Sardinen erzählt hatte. Als Kind hatte er sich ein paar Lire damit verdient, auf den Fischerbooten zu helfen. Wenn die Sardinen von unten von Thunfischen angegriffen werden, flüchten sie an die Wasseroberfläche und ballen sich zu ihrer Verteidigung zu einer kugelförmigen Masse zusammen. Diese Strategie lockt wiederum die Möwen an, die sie von oben attackieren, und natürlich die Fischer mit ihren Schleppnetzen.
    Der Deutsche drehte sich um und warf Maestri einen strengen Blick zu: »Lass das!« Das Schwein ließ von ihr ab und zischte: »Wart’s nur ab, du kleine Raubkatze. Wenn ich erst für dich zuständig bin, werde ich dich schon zu zähmen wissen.«
    Inzwischen war ihr klar, wohin man sie brachte: in die Militärkommandantur in der Via Pagano Doria. Als sie die taghell erleuchtete Halle des »Grand Hotel« betraten, wunderte sie sich über die Wärme und den Luxus, mit dem sich die neuen Herren umgaben. Wieder dachte sie an Sandra und Mariù. Ihr war, als bohrte sich eine Faust tief in ihren Magen. Obwohl es im Auto warm gewesen war, hatte sie eiskalte Hände, sie zitterte am ganzen Körper. Ob vor Angst oder vor Kälte, wusste sie nicht.
    Der Unteroffizier brachte sie in den zweiten Stock. Dort gingen sie einen langen Flur entlang, bis er schließlich vor einer verschlossenen Tür stehen blieb. Er klopfte, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Tilde war mit Maestri allein. Er starrte sie lüstern an und lachte anzüglich: »Du hast Glück, du kleine Hure, der Sergente ist der Adjutant von Hauptmann Hessen. Von der deutschen Wehrmacht. Weißt du, was das heißt?«
    Sie schüttelte den Kopf. Der Polizist lachte wieder, dieses Mal noch dreckiger: »Dir bleibt die SS erspart.« Dabei streckte er die Hand aus und fuhr ihr über den Mantel, |14| dort, wo sich ihre Brüste abzeichneten. Sie wich zurück und sagte nur: »Und was wird aus meinem Fahrrad?«
    »Denk jetzt lieber daran, deine Haut zu retten«, entgegnete er und steckte sich eine Zigarette an. Er rauchte Aurora, eigentlich eine Frauenmarke. »Auch eine?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf. »Wie soll ich ohne Fahrrad meine Tante versorgen?«
    »Darum werden sich deine Verbrecher-Freunde schon kümmern. Wenn die Arme sonst niemanden hat, wird sie verhungern, das kannst du mir glauben.«
    Die Tür öffnete sich und der Adjutant winkte Tilde hinein. Ein geräumiges Büro, das vor einigen Monaten noch wohlhabende Gäste beherbergt hatte. Farbenfrohe Orientteppiche dämpften jeden Schritt, die Fenster waren von cremefarbenen Vorhängen verhüllt. Dahinter musste der Hafen liegen. Tilde durfte auf einem samtbezogenen Stuhl Platz nehmen und für einen kurzen Moment vergaß sie den schmerzenden Fuß. Der Polizist setzte sich neben sie, während der Adjutant den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.
    Hauptmann Hessen war etwa vierzig Jahre alt. Der Kragen seiner Uniformjacke war geöffnet. Blond, hellhäutig, Dreitagebart. Er wirkte müde und traurig. Tilde blickte ihn an. Angst machte er ihr keine, denn er erinnerte sie an Biscia. Die beiden hätten Brüder sein können.
    Tilde war im Gegensatz zu Biscia ein dunkler, fast maurischer Typ, mit kohlrabenschwarzen Haaren und ebensolchen Augen. Sie waren ein schönes Paar. Wenn sie Hand in Hand die Via Garibaldi
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