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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Autoren: Matthias Onken
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Ich zittere schon wieder. Am Bahnhof zittere ich immer noch. Die Ersten, die ich anrufe, sind meine Eltern. Als ich sage, dass es vorbei ist und dass es toll gelaufen ist, kommen mir die Tränen. Es ist der Moment, in dem ich das erste Mal eine Ahnung davon bekomme, wie sehr ich mich erlöst habe.
    Ich erinnere die Situation, in der ich mich zuletzt so frei und glücklich gefühlt habe. Es war die Geburt meines Sohns. Das ist fast zwölf Jahre her.

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    Epilog
    Der letzte Arbeitstag in der Redaktion fühlt sich weit weg an. Gleich nach meinem Ausstieg ging es mir sehr gut. So geht’s einem Gefangenen, der seine Strafe abgesessen hat und in die Freiheit entlassen wird, dachte ich. Mein Job kam mir vor wie Strafe, zumindest das vergangene Jahr. Das Urteil hatte ich selbst gesprochen, ich war der Richter, eine Verteidigung war nicht zugelassen. Immerhin war ich Freigänger, offener Vollzug. Morgens musste ich einfahren, abends durfte ich zum Schlafen nach Haus. Bei Knackis ist es andersrum. Jahrelang habe ich den Job, unter dem ich später immer mehr litt, als das Größte angesehen. Bis vor wenigen Jahren hatte ich niemals zu hoffen gewagt, beruflich jemals so viel Verantwortung übertragen zu bekommen. Ich wurde gefördert, unterstützt, meine Chefs waren überzeugt von mir. Habe ich sie enttäuscht? Ich habe Fehler gemacht, ja. Punktuell, nicht grundsätzlich. Ist mir ein Fehler unterlaufen, hat sich darüber vermutlich niemand so geärgert wie ich selbst. Über kleine Fehler habe ich mich einen Tag lang aufgeregt, größere haben mich tagelang umgetrieben, manchmal sogar mehrere Wochen. Ich habe mich verrückt gemacht, konnte mir den Patzer nicht verzeihen. Leute, die mit ihren Fehlern angemessen umzugehen verstehen, bewundere ich. Fehltritte einräumen, sie analysieren, sie zu den Akten legen. Basta. Nicht bei mir. Mich haben Ausrutscher wahnsinnig gemacht. Auch die meiner Mitarbeiter. Weil sie auch meine waren. Dem einen oder anderen hätte ich gern mal gewaltig die Meinung gegeigt. Im letzten Moment habe ich mich immer wieder gezügelt, habe nicht das getan, wonach mir zumute war: getobt, geschrien, die Nerven verloren. Das Runterschlucken meines Ärgers hat mir körperliche Schmerzen bereitet. Mal in den Wald zu gehen oder mich unter eine Bahnbrücke zu stellen und alles rauszubrüllen, hätte mir wahrscheinlich geholfen.
    Häufiger Dialog in den ersten Wochen nach meinem Ausstieg:
    «Wie geht es dir?»
    «Sehr gut. Ich fühle mich befreit, ich lebe ein neues Leben.»
    «Das sieht man dir an!»
    In dieser Zeit war ich fast euphorisch, jeder Tag fühlte sich an, wie sich als Kind der eigene Geburtstag angefühlt hat. Wie etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches, ein bisschen unwirklich. Das hat sich geändert, die neue Situation hat den Zauber des Neuen verloren. Ich musste einsehen, dass sich die Umstände ändern lassen, von einem auf den anderen Tag alles anders sein kann. Aber ich selbst bin kein anderer. In mir drin ist all das, was ich mir viele, viele Jahre aufgeladen habe.
    Drei Monate nach meinem letzten Arbeitstag bei BILD dachte ich, einen Herzinfarkt zu bekommen. Es war ein kühler Samstagnachmittag Anfang Oktober. Ich war mit meinem Sohn beim Einkaufen. An der Supermarktkasse wurde mir unglaublich warm, ich spürte eine enorme Hitze, die in mir aufstieg, und ich spürte leichten Schwindel. Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Mit Mühe bezahlte ich, packte Joghurt, Milch, Kekse und Gemüse in eine Tüte und griff mir unter die Trainingsjacke, die ich über meinem Hemd trug. Das Shirt war pitschnass geschwitzt. Ich bekam Angst, meinem Sohn sagte ich nichts. Er sollte sich nicht sorgen. Wir gingen schnell nach Hause. Meine Freundin, mit der ich kurz nach meiner Kündigung zusammengekommen war, sah mir sofort an, dass es mir nicht gutging. Das änderte sich auch am nächsten Tag nicht. «Du siehst schlimm aus!», sagte sie. So fühlte ich mich auch. Kraftlos, ohne jeden Antrieb, in mir drin war plötzlich wieder diese Finsternis, die mich während der Arbeit so oft heimgesucht hatte. Am Montag bin ich zum Arzt. Gesundheitscheck. Blutdruck messen, Brust abhören, Lungentest, Blutabnahme, EKG. Nichts. Der Arzt hat mich zur Magenspiegelung geschickt und zum Lungenröntgen. Eine leichte Magenschleimhautentzündung wurde diagnostiziert, ich bekam Tabletten, das war’s. Mein Arzt: «Sie haben hart gearbeitet, waren voller Zweifel, haben ungesund gelebt, Ihre privaten
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