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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Autoren: Matthias Onken
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dieser Nacht, gehe pinkeln, obwohl ich nicht muss, und blicke aus dem Fenster meines kleinen Hotelzimmers im zweiunddreißigsten Stock des New Yorker am Madison Square Garden. Aus den Straßenschluchten kreischen zwei Polizeisirenen, eine mehr von links, eine mehr von rechts. Ein Mann krakeelt wirres Zeug von irgendwoher. Überall Lichter, überall Leben. The city that never sleeps. Wie wahr. Geht der Tag gleich los, oder geht er gerade zu Ende? Der Blick auf die Stadt gibt mir keinen Hinweis. Mein Körper fühlt es nicht. Ich müsste auf die Uhr gucken, um sicherzugehen. Ich stehe da, meine Gedanken pulsieren, in mir drin scheint alles auf Vollgas gestellt. Die vierte Nacht fast ohne Schlaf – wie geht das nur? Das macht der Geist dieses Orts. Das ist mein Geist. Ich muss ihm Platz machen, er verlangt es, und ich weiß, dass es richtig ist. Es ist meine Chance. Seinetwegen bin ich hier. Ich bin hierhergekommen, um ihn abzuholen und mitzunehmen. Heim in meine kleine, eingefahrene, unheile Welt.
    Das Gefühl, dass ich den falschen Weg gewählt habe, habe ich schon lange. Jetzt habe ich die Karte für eine neue Route. Eine Route in ein neues Leben. Ich bin ganz nüchtern, aber voller Eindrücke, voller Mut und randvoll mit Energie. Mit einem Mal. Zu Hause bin ich kraftlos, jede Stunde Arbeit fällt mir schwer, jede Stunde Alltag zehrt mich aus. Oft bin ich nur noch Schrumpelhaut und brüchige Knochen. Jetzt hier am Fenster mit Blick auf die hunderttausendfach genutzten letzten Chancen bin ich stark. Ich weiß, ich werde es bleiben. Ich nutze meine Chance. Es wäre vielleicht nicht die letzte, aber es ist eine großartige. Ich weiß, ich werde es tun.
    In dieser Nacht fasse ich den Entschluss zu kündigen. So bald wie möglich.

[zur Inhaltsübersicht]
    D.
    Februar 2011
    Ich habe meine Kündigung fest vor Augen. Die Erlösung ist zum Greifen nah. Ich quäle mich durch die letzten Monate eines Redaktionsleiters, der aussteigen wird. Der aber noch mit niemandem darüber sprechen kann, weil er sonst die Kommunikationshoheit über seinen Abgang zu verlieren droht. Das würde es nicht einfacher machen, ich liefe Gefahr, zum Getriebenen zu werden. Das will ich nicht, also schweige ich.
    Ich denke weiter nach über meinen Stress und darüber, ob ich nach meinem Ausstieg Tritt finden werde in meinem dann folgenden Leben. Werde ich wieder normal?
    In diese Gedanken hinein erreicht mich die Nachricht vom Schicksal meines früheren Kollegen D. Drei Jahre älter als ich, zwei Kinder etwa im Alter meines Sohns, ebenfalls getrennt von der Mutter, stellvertretender Ressortleiter. Ich höre, dass D. bereits mehr als ein halbes Jahr nicht mehr in der Redaktion war. Sein Zusammenbruch folgte direkt auf ein Mörderpensum als Blattmacher. Acht Wochen verantwortlicher Dienst, denen schon ein Marathoneinsatz vorausgegangen war. In zwei Monaten hatte er gerade mal drei freie Tage. Mehrere Großereignisse wie die Fußball-WM fielen in die Zeit, obendrein musste er mit einer Schmalspurbesetzung klarkommen. Nach Jahren massiver Maloche unter Hochdruck war das das Quäntchen, das noch gefehlt hatte zur Explosion. Sein Körper gab den Geist auf. Das Horrorszenario: Herzbeschwerden, plötzlicher Schwächeanfall, Krankenhaus, Notaufnahme, Herzstillstand, Reanimation. D. überlebte. Organisch haben die Ärzte an seinem Herzen keine Schädigungen diagnostiziert, auch seine Blutwerte waren und sind völlig okay. Aber bis heute ist er körperlich ein Wrack. Seelisch und mental belastet ihn seine Situation hart. Er kann sich nicht länger als dreißig Sekunden auf den Beinen halten. Schon Duschen ist eine unglaubliche Anstrengung, Besuch zu empfangen, stellt eine riesige Herausforderung da. D. schmerzt das gesunde Herz, er leidet unter Dauerkopfschmerzen. Diagnose nach mehreren Klinikaufenthalten und einer monatelangen Odyssee von einem Arzt zum nächsten: CFS, Chronisches Erschöpfungssyndrom. Nerven- und Immunsystem spielen verrückt. Ursache: Stress.
    D. weiß nicht, ob und wann er wieder auf die Beine kommt. Er ist so sehr am Ende, dass er Arztbesuche nur im Rollstuhl bewerkstelligen kann. Als wir vor ein paar Jahren Kollegen waren, haben wir mit ein paar Jungs aus der Redaktion Fußball gespielt. Wir haben gefeiert, gelacht, diskutiert, gestöhnt über die Heuschrecke und die Personalknappheit. Wir waren junge Chefs, wir haben eine erfolgreiche Zeitung gemacht, wir waren die Anführer eines phantastischen Teams. D. bekam damals Magenprobleme. Er
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