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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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sagte sie Jack, könne
man ein Blatt oder eine Beere machen, [35]  gelegentlich auch ein Blütenblatt.
Manche Buchstaben hatten mehr runde Bestandteile als andere – hier bot sich die
Form einer Beere an. Die Buchstaben, die mehr gerade Elemente und Winkel
enthielten, wurden zu Blättern. Ein Blütenblatt dagegen konnte sowohl spitz als
auch rund sein.
    Kirsten brachte mehr Blätter als Beeren und ein seltsames
Blütenblatt hervor. Zusammen mit den unverändert gebliebenen Herzen und Dornen
umkränzten sie Lars’ linken Knöchel mit einer eigenartigen Girlande: Es sah
aus, als wären viele kleine Tiere geschlachtet und ihre Herzen in einem
ungepflegten Garten verteilt worden.
    Jack war recht zuversichtlich, auch Elise überdecken zu können, doch die schwarzen Kettenglieder gaben einen schlechten
Hintergrund für jede denkbare Kombination von Blättern und Beeren ab. Außerdem
läßt sich einem E nicht so ohne weiteres eine Form verleihen, die auch nur
entfernte Ähnlichkeit mit etwas Pflanzlichem hat.
    Für seinen zweiten Versuch auf menschlicher Haut war die Wahl des
Vierjährigen auf einen Stechpalmenzeig gefallen. Die spitzen, gezackten Blätter
und die leuchtendroten Beeren erschienen ihm ideal für einen Namen, der so kurz
war wie Elise. Das Ergebnis erinnerte an einen
mißhandelten Weihnachtsschmuck, den jemand zum Spott an einem Maschendrahtzaun
befestigt hatte.
    Dennoch lautete Tatovør-Oles einziger Kommentar, daß selbst der
legendäre Les Skuse aus Bristol Jack um seine Kunstfertigkeit beneidet hätte.
Das war ein hohes Lob. Nur die Behauptung, daß Aberdeen-Bill sich in seinem
Grab aufgesetzt hätte, um das Werk seines Enkels zu würdigen, hätte noch
schmeichelhafter sein können, doch Ole wußte, wie empfindlich Alice auf
Bemerkungen reagierte, in denen ihr Vater in einem Atemzug mit dem Wort Grab
vorkam.
    Sie war nicht in Leith gewesen, um die Asche ihres Vaters [36]  durch
den Zaun auf den Friedhof der Pfarrkirche zu streuen, aber ihr Vater hatte noch
selbst dafür gesorgt, daß ein Fischer die Asche der Nordsee übergab. Und die
allen Tätowierern in den Hafenstädten an der Nordsee bekannte Tatsache, daß
Aberdeen-Bill sich zu Tode getrunken hatte, erwähnte Ole nur ein einziges Mal.
    Hatte ihn die Schande seiner Tochter, die nach Halifax geflohen war
und ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte, in die Trunksucht getrieben?
Oder war Aberdeen-Bill schon immer ein Trinker gewesen? Schließlich war ja
schon an jenem Wochenende in Aberdeen alles schiefgegangen, und vielleicht
hatte die Abreise seiner Tochter seine bereits bestehenden Probleme nur noch
verschärft.
    Tochter Alice sprach nie darüber, und auch Tatovør-Ole erwähnte das
Thema nicht mehr. Jack Burns wuchs mit Gerüchten auf, und davon bekam der Junge
in Nyhavn 17 eine Menge ab.
    Jack überließ es natürlich seiner Mutter, Lars’ Knöchel zu reinigen
und zu verbinden. Eine Tätowierung heilt von allein. Man deckt sie für einige
Stunden ab und wäscht sie dann mit unparfümierter Seife. Man vermeidet zuviel
Wasser und trägt lediglich eine Feuchtigkeitscreme auf. Ole erzählte Jack, eine
frische Tätowierung fühle sich an wie ein Sonnenbrand.
    Die Überdecker des Vierjährigen mochten in ästhetischer Hinsicht
bedenklich sein, doch die beiden Namen waren verschwunden. Daß
Herzensbrecher-Madsens Knöchel nun mit Gestrüppen umkränzt waren, die an
Leichenteile erinnerten – oder schlimmer: mit etwas, das laut Tatovør-Ole »die
reinste Anti-Weihnachts-Propaganda« war –, stand auf einem anderen Blatt.
    Der arme Lars. Tatovør-Ole hatte ihm den Spitznamen Herzensbrecher
verpaßt, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Jack sah ihn nie in
Gesellschaft einer Frau, hörte ihn nie von einer Frau sprechen. Natürlich
lernte der Junge auch weder [37]  Kirsten noch Elise kennen – nur ihre Namen, die
er in Tinte und Blut ertränkte.
    Wie jeder Vierjährige hörte Jack Burns nicht so genau hin, wenn
Erwachsene sich unterhielten. Sein Verständnis von linearer Zeit mochte auf dem
Niveau eines Elfjährigen sein, doch was er von der Geschichte seines Vaters
wußte, stammte aus seinen kleinen Gesprächen mit seiner Mutter und nicht aus
dem, was sie gegenüber anderen Erwachsenen sagte. Bei diesen Unterhaltungen
schweifte Jacks Aufmerksamkeit immer wieder ab; er hörte noch nicht zu wie ein
Elfjähriger.
    Selbst Herzensbrecher-Lars erinnerte sich an William Burns, obwohl
es Tatovør-Ole gewesen war, der ihn gestochen hatte, und es
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