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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht
Autoren: Karl Heinz Brisch
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erkannte Bowlby Ähnlichkeiten zwischen dem Bindungskonzept und dem Lorenzschen Begriff der Prägung. Junge Wildgänse folgen der Muttergans nicht deshalb, weil sie sie als Mutter erkennen, die sie zur Futterstelle oder aus der Gefahr führen wird, sondern sie folgen jedwedem Objekt (und übrigens auch Lorenz selbst), wenn sie frühzeitig in ihrem Leben gesehen haben, dass dieses Objekt sich bewegt. Lorenz zog daraus den zutreffenden Schluss, dass die Evolution die kleinen Gänse mit der neuronal fest verdrahteten Anweisung versehen habe, sich an das erste sich bewegende Objekt zu fixieren bzw. sich entsprechend zu prägen, und dieses Objekt war in der Regel die Mutter.
    »Prägung ist eine Manifestation rudimentärer neuronaler Systeme, ein Sich-Versuchen in Bezogenheit, und ihre Rigidität verdankt sich sehr weitgehend der primitiven Natur solcher Prozesse. Menschliche Beziehungen weisen ganz ähnliche Gesetzmäßigkeiten auf. Primaten sind in ihren Bindungsbeziehungen zwar flexibler als Gänseküken, aber diese Flexibilität ist weitaus geringer, als gemeinhin angenommen wird« (Lewis et al. 2000, S. 68).
    Bowlby postulierte einen vergleichbaren Prozess in Bezug auf das Phänomen der Bindung. Bis in die frühen 1950er Jahre hinein war man allgemein der Ansicht gewesen, dass Kinder sich in erster Linie deshalb an ihre Mütter binden, weil diese sie füttern. Bowlby distanzierte sich von dieser irrigen Annahme einer Art Zweckliebe und verwies auf die Forschungen von Harlow (1958) und Spitz (1968 a, b), um seine Theorie zu untermauern. René Spitz hatte über das Schicksal von Waisenkindern in Findelhäusern und über das Los von Säuglingen berichtet, die man von ihren inhaftierten Müttern getrennt hatte. Die physischen Bedürfnisse dieser Kinder wurden in den genannten »hygienisch einwandfreien Anstalten« zwar angemessen erfüllt, aber die Kinder gediehen nicht, weil sie nicht mit dem richtigen Maß an emotionaler Responsivität »gehalten« bzw. versorgt wurden. Die Todesraten in solchen »sterilen Bewahranstalten« lagen üblicherweise bei 75 Prozent. Spitz entdeckte, dass es tödlich für kleine Kinder ist, wenn die Umgebung es am Umgang und am Spiel mit ihnen fehlen lässt, wenn sie nicht im Kontakt betätschelt werden, wenn man nicht mit ihnen flüstert, sie streichelt und liebevoll anredet.
    Harlows (1958) berühmte Forschungstätigkeit in den 1950er Jahren bildete eine weitere Bestätigung für den von Bowlby reklamierten Stellenwert von Bindung. Wie jeder Psychologiestudent aus der Literatur weiß, bevorzugen junge Affen, wenn sie unter zwei Ersatzmüttern wählen dürfen, immer die Stoffpuppegegenüber der Drahtpuppe mit der eingebauten Milchflasche. In Augenblicken der Belastung oder Bedrohung wandten sie sich mit ihrem Anliegen, bemuttert und beruhigt zu werden, stets an die Stoffpuppe. Wurde die Stoffpuppe entfernt, dann vollführten die Affenbabys in einer Ecke des Raumes wiegende Bewegungen für sich allein.
Folgerungen für die Suchtbehandlung
    Aus der Bindungstheorie ergibt sich eine Reihe bedeutsamer Folgerungen für die Suchtbehandlung. Um die Theorie dafür heranziehen zu können, bedarf es einer Zusammenfassung ihrer Positionen:
    1.) Bindung ist eine elementare und eigenständige Motivation, die sich nicht auf einen Sekundärtrieb reduzieren lässt.
    2.) Tatsächliche, »realweltliche« Geschehnisse sind wichtiger als unbewusste Phantasien oder Triebregungen.
    3.) Das Ausmaß, zu dem ein Mensch die eigenen Emotionen steuern kann, bestimmt sich durch Dauer und Stärke seiner frühesten Bindungserfahrungen.
    4.) Trennung und Individuation, frei von Bindungsbedürfnissen, sind keine legitimen Ziele einer normalen Entwicklung oder einer Therapie.
    5.) Das Bedürfnis nach Bindung und nach der Responsivität der Selbstobjekte ist ein lebenslanger Prozess, keine phasenspezifische Erscheinung.
    6.) Die Bindung des Kindes an die Elternperson ist etwas anderes als die Bindung der Elternperson an das Kind. Wenn Eltern/Therapeuten ihre Kinder bzw. Patienten dazu einsetzen, die eigenen unbefriedigten Bindungsbedürfnisse zu erfüllen, führt das in die Psychopathologie.
    7.) Tätige Zugewandtheit und Fürsorge sowie die Bereitschaft zu affiliativen Beziehungen (Wechselseitigkeit) sind eigenständige
Entwicklungsstufen, die erreicht sind, wenn das Selbst voll entwickelt, also zur Reife gelangt ist.
    8.) So wie biochemische Interventionen (Medikation) das Verhalten verändern, können Interventionen in das
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