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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Bereitschaftsdienstplan der Amtsrichter zurückgreifen konnte. Häberle zog wortlos die entsprechende Liste aus der Schreibtischschublade, sah nach der Telefonnummer jenes Richters, der diese Woche Bereitschaft hatte, und wählte sie. Linkohr und Speckinger war rasch klar geworden, weshalb ihr Chef mit dem Anruf so lange gezögert hatte. Jetzt war Richter Schwenger zuständig, ein Praktiker, was die Polizei- und Ermittlungsarbeit anbelangte. Zwar hatte er sich vor kurzem mächtig in die Nesseln gesetzt, als er zwei Polizeibeamte wegen Freiheitsberaubung im Amt zu Geldstrafen verurteilt hatte, bloß weil sie einen randalierenden Schwarzfahrer ohne richterliche Verfügung für knapp drei Stunden in Gewahrsam genommen hatten. Doch war mit ihm über polizeitaktische Einsatzgründe schneller eine Einigung zu erzielen als mit seinen Kollegen, die sich tagsüber mit Familien- oder Zivilrecht befassten. Häberle erläuterte ihm die Situation – und erhielt den erhofften Beschluss.
    Jetzt stand der Aktion nichts mehr im Wege. Häberle zeigte sich erleichtert.
     
    Der Schöffe gähnte. Ketschmar war über die zur Schau getragene Langeweile und dem Desinteresse an seinem letzten Wort maßlos enttäuscht. Doch er wollte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Jetzt nicht. Er hatte sich schließlich intensiv darauf vorbereitet, jedes Wort auf die Goldwaage gelegt.
    »Hohes Gericht, bitte gestatten Sie mir, dass ich noch einige sehr persönliche Worte an Sie richte. Ich bekenne mich schuldig, die Drohbriefe verfasst und den Bürocontainer angezündet zu haben. Doch auch wenn es so klingen mag, als ob ich für den Mord an Herrn Grauer nicht gerade stehen wolle – ich war es nicht.« Er sah den Richtern nacheinander in ihre versteinerten Gesichter.
    »Ich bin unschuldig. Mein Anwalt hat bereits dargelegt, dass ich in den Strudel eines Verbrechens geraten bin – und dies zu einem Zeitpunkt, als ich nervlich und psychisch stark belastet war. Damit ist zu erklären, dass ich an diesem Novemberwochenende in einem psychischen Ausnahmezustand war, als mir bewusst wurde, durch den Blechschaden an meinem Auto zum Kreis der Verdächtigen zu gehören. Und als dann noch Grauers Name in der Zeitung stand, hab ich Panik gekriegt.« Er legte das erste handbeschriebene Blatt beiseite. »Sie können vielleicht meine innere Verfassung nachvollziehen, wenn Sie sich vor Augen führen, in welcher Situation ich mich befunden habe: Seit elf Monaten keinen Job mehr – obwohl zuvor ein Berufsleben lang erfolgreich gearbeitet. Bis dahin nie einen Gedanken ans Altwerden verschwendet – und nun bekommen sie ständig gesagt, dass man sie nicht mehr brauche. Dass Erfahrung und Know-how keinen Menschen mehr interessiert. Weil nur noch junge und damit billigere Arbeitskräfte gesucht sind. Ein Jugendwahn, der diese Republik in den Untergang treibt.« Ketschmar sah auf und blickte in die Augen der jungen Richterin. Wie würde sie diese Meinung aufnehmen?, durchzuckte es ihn. Vielleicht waren solche Äußerungen undiplomatisch. Doch es war seine tiefste Überzeugung. »In den Chefetagen, das habe ich damals festgestellt, sitzen überall studierte Betriebswirtschaftler, die nie wirklich gearbeitet haben, die keine Ahnung davon haben, was langjährige Erfahrung bedeutet – oder ein gutes Arbeitsklima. Sie hocken in ihren Chefsesseln, haben sich mit Ellbogen hochgeboxt, mit Gerede und Intrigen oder haben einfach den Vater beerbt, der noch wusste, dass nur mit eigener Hände Arbeit echte Erfolge zu erzielen sind.« Während Ketschmar ein weiteres Blatt beiseite legte, musste er an die Schöffen denken. Er hatte keine Ahnung, was sie von Beruf waren. Womöglich auch reine Theoretiker, die das wahre Leben nicht kannten? Sie sahen ihn jetzt zumindest interessiert an.
    »Aber auch in der Politik haben solche Leuten das Sagen. Dass gerade die erste rot-grüne Bundesregierung das soziale Netz zerschnitten hat, macht doch deutlich, wie wenig Rückhalt den rechtschaffenen Bürger erwartet. Er hat zwar Jahrzehnte lang Unsummen in die Sozialkassen bezahlt – doch im Ernstfall wird er mit denen gleichgestellt, die nur auf der Straße rumlungern und keinen Cent jemals in Rentenoder Arbeitslosenkasse bezahlt haben.« Ketschmar bekam eine trockene Kehle. Er räusperte sich. »Seit über 10 Jahren wird den Arbeitnehmern in diesem Lande vorgegaukelt, sie müssten auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten und mehr arbeiten für weniger Geld, weil die Betriebe sonst nach
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