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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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anderen Signalpatronen ab, drei Schüsse hintereinander waren ein gängiges Notsignal. Anschließend lud er das Gewehr wieder mit den Magnum-Patronen, und er entfernte auch die Pufferpatrone, die wie gesetzlich vorgeschrieben den Raum für zwei Patronen ausfüllte. Jetzt hatte er also eine Patrone im Lauf und vier im Magazin. In dieser Situation galten keine Jagdvorschriften mehr. Ihn hatte die schreckliche Ahnung befallen, dass er womöglich um sein Leben kämpfen müsste.
    Wieder fiel ein Schuss, doch diesmal aus einer anderen Richtung, und er spürte, wie die Schrotkörner gegen seinen Rücken prallten. Ohne zu überlegen, sprang er über die Mauer, um auf der anderen Seite Deckung zu suchen. Die Schussdistanz war so groß, dass die Körner vom Anorak abgeprallt waren, aber er hatte das unangenehme Gefühl, als hätte jemand mit geballter Kraft mit einer Knotenpeitsche auf ihn eingeschlagen.
    Irgendetwas musste er tun, um sich aus diesem Hinterhalt zu befreien. Blitzschnell ging er alle Optionen durch. Er konnte versuchen, die Beine in die Hand zu nehmen und quer über den Kartoffelacker und die Wiese zu laufen – aber dort hatte er keinerlei Deckung, falls der Scharfschütze ihm nachsetzen würde. Vielleicht war es besser, zunächst zurückzuschießen und zu sehen, wie der andere reagierte. Er legte das Gewehr auf die Mauer und feuerte blindlings in die Richtung, aus der der letzte Schuss gekommen war. Darauf erfolgten augenblicklich zwei weitere Schüsse, von denen er aber nicht wusste, wo sie aufschlugen. Wieder legte er das Gewehr auf die Mauer und feuerte ab, und danach blieb alles ruhig.
    Der Jäger lud sein Gewehr aufs Neue und wartete. Einige Zeit verging, dann kam ein Schuss von der Seite, und er spürtewieder, wie die Schrotkörner gegen seinen Anorak prallten, und irgendetwas traf ihn am Kinn. Er warf sich auf den Bauch und rührte sich nicht. Die Wunde am Kinn brannte zunächst heftig, aber das verging schnell. Er strich sich mit der behandschuhten Hand übers Gesicht und sah sich den Handschuh an. Die Wunde schien stark zu bluten, das war unangenehm, aber es hätte schlimmer sein können. Er hatte jetzt ganz anderes im Kopf. Wieder krachten zwei Schüsse los, die vor ihm in die Erde schlugen. Entweder waren es zwei Schützen oder einer, der äußerst rasch seine Position verändern konnte.
    Er feuerte sämtliche drei Patronen im Magazin in die Richtung ab, aus der die letzen Schüsse gekommen zu sein schienen, und versuchte anschließend, dicht an der Mauer Deckung zu suchen, während er nachlud. Wieder hörte er drei Schüsse, und das Blei prasselte auf ihn ein wie Hagelkörner in einem Unwetter. Die Distanz war aber offensichtlich immer noch so groß, dass die Kleidung das Gröbste abhielt.
    Der Adrenalinstoß, der seinen Körper durchfuhr, bewirkte, dass er jetzt eigentlich keine Angst mehr spürte, sondern Wut. Er war entschlossen, seinem Gegner dieses Spiel nicht bis zum letzten Zug zu überlassen.
    Wieder wurden drei Schüsse abgefeuert, und er verspürte einen durchdringenden Schmerz, als die Schrote seine weniger geschützten Waden trafen. Wahrscheinlich pirschte sich der Schütze immer näher heran, und wenn er jetzt nichts unternähme, würde das unausweichliche Ende wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf. Es waren immer jeweils drei Schüsse hintereinander abgefeuert worden, wahrscheinlich hatte der Gegner ein Gewehr mit drei Schuss in jeder Ladung und musste dann wieder neu laden, was ein paar Sekunden dauerte. Vielleicht lag da die Chance für ihn. Der Jäger gab zwei Schüsse ab, lud das Gewehr sofort wieder und feuerte noch einmal. Wieder pralltenum ihn herum drei Geschosse auf, und jetzt würde der andere höchstwahrscheinlich nachladen müssen. Vielleicht lag darin seine Chance. Der Mann sprang auf die Beine, rannte so schnell er konnte mit angelegtem Gewehr auf den Entwässerungsgraben zu und feuerte im Laufen einmal ab. Er war nur noch ein paar Schritte vom Ziel entfernt, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte und er einen Schlag am linken Oberschenkel knapp oberhalb des Knies verspürte. Beim nächsten Schritt fühlte es sich so an, als sei er in ein tiefes Loch getreten. Er fiel vornüber auf den Bauch und verlor das Gewehr. Unter großen Mühen konnte er sein Gesicht aus dem Gras heben und sich umblicken. Hinter ihm lag ein halbes Bein. Ungläubig tastete er mit der Hand am linken Oberschenkel entlang und spürte, dass er
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