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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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Zigarette zu genießen.
    Die Gänse beschrieben einen großen Kreis über dem Kartoffelacker und schienen die Situation abzuschätzen. Die Lockvögel dienten dazu, ihnen zu suggerieren, dass hier keine Gefahr drohte. Der Flugkreis verengte sich, und die Gänse strichen wachsam an.
    Der Mann dachte jetzt nicht mehr an den Kaffee, sondern brachte vorsichtig die Waffe in Anschlag. Die Gänse verringerten die Flughöhe und hielten gegen den Wind auf den Kartoffelacker zu. Etwa hundert Meter vor dem Ziel wurden sie aber auf einmal scheu und stiegen kreischend wieder hoch. Kurze Zeit später war die Gruppe in nördlicher Richtung verschwunden.
    Der Jäger streckte vorsichtig den Kopf über die Mauer und versuchte festzustellen, was diese Störung verursacht hatte. Nirgends sah er eine Bewegung. Der Hund war jetzt ebenfalls aufgestanden und schnupperte und knurrte leise.
    »Ruhig, Kolur«, befahl der Mann und sah sich immer noch forschend um. Dreißig Meter von der Hausruine entfernt zog sich am Rand einer Heuwiese ein nicht sehr tiefer Entwässerungsgraben entlang, dessen Böschung mit hohem verwelkten Gras bewachsen war. Oberhalb davon, aber etwas mehr seitlich, lagen einige große Felsblöcke, die vor langen Zeiten bei einem Erdrutsch vom Berg gekollert sein mochten. Noch lag das flache Land am Fuß der Berge im Schatten, und man sah fast gar nichts.
    Urplötzlich zerriss ein Schuss dröhnend die Stille, und fast gleichzeitig hörte man das Geschoss an einem der Lockvögel im Kartoffelacker aufprallen, der umkippte.
    »Hallo, wer ist da?«, rief der Mann laut. Er wartete eine Weile auf eine Antwort und rief dann noch lauter: »Wer ist dort? Das Land hier ist in Privatbesitz.«
    Wieder blieb die Antwort aus. Er rief noch einmal: »Unbefugten ist es nicht gestattet, hier zu jagen.«
    Um ihn herum herrschte bis auf das leise Knurren des Hundes tiefe Stille.
    »Kolur!«, sagte der Mann schroff, und der Hund verstummte.
    »Hallo«, rief der Mann ein weiteres Mal. Immer noch Schweigen.
    Der Mann lugte wieder über die Mauer hinweg, konnte aber den anderen Schützen nicht ausmachen. Stattdessen hörte er einen weiteren Knall, Gras und Erde spritzten hoch, wo der Schuss eingeschlagen war, nur ein paar Meter vor der Ruine. Der Mann duckte sich rasch. Ungläubig überlegte er, was zu tun war. Es handelte sich ganz offensichtlich um eine großeSchrotladung, die genau in seine Richtung abgefeuert worden war. Wer um alles in der Welt spielte so ein Spiel?
    »Hallo«, brüllte er, so laut er konnte. »Hör auf zu schießen.«
    Er riss sich die Mütze vom Kopf und stülpte sie auf den Lauf seines Gewehrs. Einen Moment zögerte er, bevor er die Flinte vorsichtig über die Steinmauer hochschob und die Mütze schwenkte. Wieder erfolgte ein Schuss, und einige Schrotkörner trafen die Mütze und den Gewehrlauf. Jetzt hielt es den Hund nicht mehr, er sprang auf und lief bellend in Richtung des Schützen.
    »Kolur!«, rief der Mann und hörte im gleichen Augenblick einen weiteren Schuss, der Hund jaulte einmal auf und verstummte dann.
    »Kolur?«, brüllte der Mann und spähte wieder über die Mauer. Mitten zwischen der Ruine und dem Entwässerungsgraben lag der Hund in seinem Blut. Der Mann ging sofort wieder in Deckung. Entsetzen packte ihn, und er duckte sich in den Schutz der Mauer. Was ging hier eigentlich vor? Dieser Hund war sieben Jahre lang so etwas wie sein bester Freund gewesen, aber dieser Gedanke stand im Augenblick nicht im Vordergrund, denn panische Angst um sein eigenes Leben hatte ihn gepackt. Er war in eine Situation und in eine Kette von Geschehnissen hineingeraten, die er überhaupt nicht unter Kontrolle hatte. Da draußen in der Dämmerung lag augenscheinlich jemand auf der Lauer, der es auf ihn abgesehen hatte.
    Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, ob er mit dem Handy einen Notruf absetzen sollte, aber dann fiel ihm ein, dass er es im Auto gelassen hatte, da es hier so dicht am Berg sowieso keine Netzverbindung gab. Er erinnerte sich an die drei Signalpatronen, die er immer im Munitionsgürtel bei sich trug. Sie waren zwar einige Jahre alt, funktionierten aber hoffentlich noch. Er entlud das Gewehr, legte die Signalpatronen ein und brachte das Gewehr senkrecht in Anschlag. Das Signalexplodierte hoch über ihm, und das grellrote Licht leuchtete eine Weile. Da aber der Himmel sich inzwischen zusehends aufgehellt hatte, war das Notsignal keineswegs so auffällig wie in der Nacht. Anschließend feuerte er die beiden
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