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Bettler 03 - Bettlers Ritt

Titel: Bettler 03 - Bettlers Ritt
Autoren: Nancy Kress
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noch schwerer faßbar, noch zurückgezogener – eine dieser sanften, bleichen Frauen aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Theresa stickte. Sie studierte Musik. Sie schrieb, unter allen belanglosen Beschäftigungen, die Lebensgeschichte dieser zur Märtyrerin gewordenen Schlaflosen Leisha Camden – noch eine Frau, die von einer völlig andersartigen nächsten Generation weitaus skrupelloserer Frauen überstrahlt wurde.
    Als die Umstellung geschah, war Theresa von allen Menschen, die Jackson kannte, der einzige, der die Spritze verweigerte. Daher konnte sie keine Nahrung aus dem Erdreich aufnehmen. Sie konnte von Viren und Bakterien infiziert werden. Sie konnte von Toxinen vergiftet werden. Sie konnte Krebs bekommen.
    Manchmal, in schwermütiger Stimmung, meinte Jackson, daß die von ihrer einsichtsvollen Sanftmütigkeit so losgelösten, schwer definierbaren neurologischen Schwächen seiner Schwester den Grund dafür darstellten, daß er Arzt geworden war. Und erst kürzlich war ihm klargeworden, Theresas Schwächen waren auch der Grund dafür gewesen, daß er jemanden wie Cazie geheiratet hatte.
    Jackson sah seiner Schwester zu, wie sie sich Fruchtsaft nachgoß – sie trank niemals Alkohol, Sonnenschein oder irgend ein anderes der zahlreichen synthetischen Endorphingetränke wie Endorkiss –, und dachte, daß es falsch war, sich von einer jüngeren Schwester, die leise, standhaft und völlig unnötigerweise verrückt war, sein Leben so formen zu lassen. Daß es von seiner eigenen Schwäche zeugte, daß er es hatte geschehen lassen. Und daß das, was er in Theresas Nähe fühlte, stark war – vermutlich nur vergleichsweise, was an sich eine kraftlose Betrachtungsweise darstellte.
    »Menschen wie Ellie Lester«, sagte Theresa, »sind nicht ganz.«
    »Was meinst du damit?« Eigentlich wollte er es gar nicht wissen – es konnte wiederum zu einer von Theresas qualvoll zaghaften Vorträgen über Spiritualität führen –, aber der Sonnenschein in seinem Drink stieg ihm gerade angenehm zu Kopf. Sein Knochengerüst fing an, sich zu lockern, seine Muskeln entspannten sich, und die Bäume unten im Park summten dazu einen anspruchslosen harmonischen Hintergrund. Er wollte nicht sprechen. Ganz sicher nicht über Ellie Lesters Daten, die er abgerufen hatte, nachdem er zu Hause eingetroffen war, und die mit der Überraschung aufwarteten, daß sie die Kontrolle über das enorme Vermögen ihres Urgroßvaters erben würde. Sollte Tessie brabbeln, soviel sie wollte. Er würde in der summenden Dämmerung dasitzen und nicht zuhören.
    Aber alles, was Theresa sagte, war: »Ich weiß nicht, was ich damit meine. Ich weiß nur, daß sie nicht ganz sind. Alle. Wir alle.«
    »Mmmm.«
    »Irgend etwas da drinnen in uns ist nicht in Ordnung. Das glaube ich, Jackson. Wirklich.«
    Sie klang nicht so, als würde sie es glauben. Sie klang so unsicher wie immer, mit ihrer zögernden, weichen Sprechweise in ihrem losen geblümten Kleid. Plötzlich fiel Jackson auf, daß er in einer Enklave, in der Parties des öfteren in allgemeiner Nacktheit zum Zweck gemeinsamer Nahrungsaufnahme endeten, die Körperform seiner Schwester seit Jahren nicht gesehen hatte.
    Doch dann brach es mit einemmal aus Theresa hervor: »Ich habe heute etwas Schlimmes gelesen. Etwas wirklich Böses! Ich habe Thomas in die Bibliotheks-DeBes geschickt, für mein Buch. Wegen etwas, das Leisha Camden 2045 schrieb.«
    Jackson wappnete sich. Theresa ließ Thomas, ihr persönliches Computersystem, häufig in historischen Datenbanken fischen und ebenso häufig interpretierte sie das, was sich in seinem Netz fing, falsch. Oder sie empörte sich darüber. Oder sie weinte.
    »Thomas brachte mir den Satz eines berühmten Arztes, der Leisha persönlich kannte, eines Hans Dietrich Lowering. Der sagte: ›So etwas wie Verstand gibt es nicht. Es gibt nur eine Anhäufung elektrischer und physiologischer Vorgänge, die wir mit dem Ausdruck Gehirn zusammenfassen.‹ Das sagte er!«
    Mitleid durchflutete Jackson. Sie sah so erschüttert aus, so kläglich entrüstet über diesen Fetzen alter, ausgelutschter Nicht-Neuigkeit! Aber sein Mitleid war mit einer plötzlichen Unruhe durchmischt, denn als Theresa das Wort »böse« ausgesprochen hatte, war vor Jacksons innerem Auge kurz das Bild von Ellie Lester erschienen – von Ellie Lester, größer als er, die Zähne gebleckt in einer lodernden Wut, die sie nicht in das offizielle medizinische ComLink einfließen lassen konnte. Sie hatte böse
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