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Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Titel: Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Sichelflügeln, dem windschnittigen Rumpf und einem Kopf, der auch bei Schräglage immer in der Horizontalen bleibt, schwingt es sich bis zu 3000 Meter in die Lüfte, Deutschland oder die Schweiz oder Europa überhaupt gleichsam fliehend; dort verweilt der ca. 40 Stundenkilometer schnelle Flieger wie nach einem exakten Plan. «Er trifft in merkwürdiger Regelmäßigkeit bei uns ein», berichtet ein Beobachter aus der Nähe von Frankfurt am Main, «gewöhnlich am 1. oder 2. Mai, und bleibt bis 1. August.» Das ist auch die Periode für die Aufzucht der Jungen, die wegen ihrer Anzahl und Häufigkeit des Schlüpfens von Spöttern auch «Taschenbücher» getauft wurden: Der Mauersegler baut nämlich keine «gebundenen» Nester, sondern nutzt Felshöhlen, Dachgiebel oder Mauerspalten als Nistplatz; vornehmlich dort, wo seine untrügliche Witterung ihm den Geruch von Druckerschwärze verrät: in aufgelassenen Gebäuden alter Rotationsmaschinen oder verfallenen Hallen mit rostenden Bleisatzapparaturen. In sprichwörtlich gewordener Eleganz schwebt er mit seiner Flügelspannweite von 40 Zentimeter, ein vielbewundertes Leichtgewicht, über Kontinente hinweg in ferne Länder. Voll Enthusiasmus haben Passagiere der «MS Europa» bei einer weiten Kreuzfahrt das Spiel dieses «Delphins der Lüfte» bewundert. Ob die Behauptung stimmt, der so leicht manövrierende Vogel könne im Flug schlafen, sich gar fliegend paaren, konnte bislang nicht bewiesen werden.

Ruge, der
    Erst kürzlich vor Rügen aufgetauchter Seehase, ein seltener Fisch, dessen Rogen, «Caviar des Nordens» genannt, als besonders schmackhafte Delikatesse gepriesen wird; die Laich-Zeit soll zehn Jahre betragen. Da das Tier bislang so gut wie unbekannt war, ranken sich viele Spekulationen um seinen Lebensraum, seine Zuwanderung und seine Lebensweise. So wurde auf einem jüngst abgehaltenen Kongreß «Animal Studies» seine Artikulationsfähigkeit untersucht, und ein Biologe wies darauf hin, daß z.   B. abgelauschte und auf Tonspulen festgehaltene Walgesänge dem Lied der Nachtigall ähneln, wenn man die Walstimme schneller und die Vogelstimme langsamer abspielt. Das Co-Referat «Animals und Aesthetics» bewies dann, daß der Ruge offensichtlich zur Kommunikation fähig ist, eine Art erzählerische Kunstform entwickelt hat; der Wissenschaftler hob hervor, daß schließlich viele Künstler wie John Cage oder Olivier Messiaen konkrete Vogelrufe in ihre Musik eingearbeitet haben – man also auch im vorliegenden Fall durchaus von «Kunstformen der Natur» sprechen dürfe. Ob die Ruge-Geräusche dem Balz-Gebaren bestimmter Kolibri-Arten, die dem Weibchen mit Geräuschen ihres Schwanzgefieders imponieren, vergleichbar seien, blieb in der anschließenden Diskussion ungeklärt.

Rühmkorf, der
    Gehört zur Familie der Ringelnatzer, einer Schlangenart, die durch häufiges Ablegen ihrer buntschillernden Häute bekannt ist. An sich ungefährlich, aber Frauen müssen sich vor ihrer listigen Possierlichkeit in acht nehmen; sie ist zwar nicht giftig, hat aber einen einzigen, stark ausgeprägten Zahn – deshalb «der Ledig» genannt –, mit dem sie gerne zubeißt und in weißes Fleisch musterförmige Zeilen prägt. Einreiben mit einer herb-bitteren Tinktur namens «Hoch-Benn» ist hilfreich.

Schädlich, das
    Spitzmausopossum. Über das unauffällige, nachtaktive Beuteltier gibt es nur wenig Erkenntnisse. Die heutigen Vertreter gelten als letzte Überlebende einer im Oligozän formenreichen Tiergruppe; diese weit zurückliegende Epoche ist auch als Honeckerolithikum in die Geschichte eingegangen, weswegen Fachleute die Spitzmausopossums unserer Tage als «lebende Fossilien» bezeichnen. Das hängt nicht zuletzt mit der hochumstrittenen Nahrungsaufnahme zusammen: Offenbar als gegnerische «Geheimagenten» erkannte Insektenlarven werden unzerkaut verschluckt, aber auch Spuren von Jungvogelfedern, gepuderten Rokoko-Perücken ähnlich, wurden in Magen und Darm gefunden. Der amerikanische Forscher Kirsch hat in seiner Studie «Zwischen Schauplatz und Elfenbeinturm» beschrieben, wie durch Hackfleisch geköderte Tiere junge Ratten töteten und verzehrten. Er bezeichnete den von ihm so genannten «Kulturflüchter» auch als beißwütig und streitsüchtig, was durch seltsame Kletterkünste und behende Verfolgungsjagden mit Hilfe der langen gebogenen Krallen belegbar sei. Über gesellige Verhaltensweisen, Fortpflanzung und Aufzucht der Jungen ist bislang überhaupt nichts
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