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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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und ich sind scharf wie die Karnickel. Wir gehen also rein, und wir
hören das Mädchen unseren Salon saugen, aber wir sehen sie nicht, sie ist jenseits der Trennwand. Also schleichen wir auf Zehenspitzen durch, wie die Kinder, verstehen Sie? Wir schleichen ins Schlafzimmer, schließen die Tür. Wir sehen, dass das Mädchen das Schlafzimmer schon gemacht hat und vielleicht nicht mehr reinkommt, aber sicher können wir nicht sein. So oder so ist es uns egal. Wir reißen uns die Kleider vom Leib, wir schlafen miteinander, und während der ganzen Zeit ist das Mädchen auf der anderen Seite, geht in unserer Suite herum und hat keine Ahnung, dass wir hier sind. Ich sag Ihnen, wir waren total scharf, aber nach einer Weile fanden wir das Ganze so komisch, dass wir einfach nur noch lachten. Dann waren wir fertig und lagen eng umschlungen da, und das Mädchen war immer noch im Nebenraum, und wissen Sie was? Sie fängt zu singen an! Sie ist mit dem Staubsaugen fertig und fängt zu singen an, lauthals, und Mann, sie sang wirklich beschissen. Wir kringelten uns vor Lachen, versuchten aber möglichst still zu sein. Dann, was glauben Sie, hört sie mit dem Singen auf und schaltet das Radio ein. Und auf einmal hören wir Chet Baker. Er singt ›I Fall in Love too Easily‹, schön, langsam, samtig. Und Lindy und ich, wir lagen einfach zusammen auf dem Bett und hörten Chet singen. Und nach einer Weile singe ich mit, ganz leise, singe mit Chet Baker im Radio mit, und Lindy kuschelt sich in meine Arme. So war das. Deswegen machen wir heute Abend diesen Song. Ich weiß allerdings nicht, ob sie sich noch erinnert. Wer weiß das schon?«
    Mr Gardner verstummte, und ich sah, wie er sich Tränen abwischte. Vittorio bog wieder um eine Ecke, und ich merkte, dass wir zum zweiten Mal an dem Restaurant vorbeikamen. Es schien dort jetzt noch lebhafter zuzugehen als vorher, und
ein Pianist – Andrea heißt der Typ, das weiß ich – spielte in einer Ecke.
    Als wir wieder in die Dunkelheit davonglitten, sagte ich: »Mr Gardner, es geht mich wirklich nichts an. Aber ich sehe, dass es vielleicht in letzter Zeit zwischen Ihnen und Mrs Gardner nicht so gut läuft. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich von solchen Dingen durchaus was verstehe. Meine Mutter wurde oft traurig, vielleicht genau so, wie Sie es jetzt sind. Immer wieder dachte sie, sie hätte jemanden gefunden, war selig und sagte zu mir, der Mann würde mein neuer Pa. Die ersten paar Mal nahm ich sie noch ernst. Dann wusste ich schon, dass es wieder nicht klappen würde. Meine Mutter aber hörte nie auf, dran zu glauben. Und jedes Mal, wenn Sie seelisch wieder im Keller war, vielleicht so wie Sie heute Abend, wissen Sie, was sie dann tat? Sie legte eine Platte von Ihnen auf und sang mit. In diesen vielen langen Wintern in unserer winzigen Wohnung saß sie da, die Knie angezogen, ein Glas mit irgendwas in der Hand und sang leise mit. Und manchmal, das weiß ich noch, Mr Gardner, hämmerte der Nachbar von oben an die Decke, vor allem, wenn Sie diese lauten, schnellen Nummern sangen, ›High Hopes‹ zum Beispiel oder ›They All Laughed‹. Dann beobachtete ich meine Mutter immer sehr genau, aber es war wirklich so, als hätte sie nichts davon mitgekriegt, sie hörte nur Sie, nickte mit dem Kopf im Takt, und ihre Lippen bewegten sich zum Text. Mr Gardner, ich möchte Ihnen eines sagen: Ihre Musik half meiner Mutter durch die schweren Zeiten, und sie muss auch Millionen anderen Menschen geholfen haben. Und es ist nur recht und billig, dass sie auch Ihnen hilft.« Ich lachte kurz auf, es war aufmunternd gemeint, aber es kam lauter heraus als beabsichtigt. »Sie können auf mich zählen, Mr Gardner, ich werde alles
geben, was ich kann. Ich mach es so gut wie jedes Orchester, Sie werden sehen. Und Mrs Gardner wird uns hören, und wer weiß? Vielleicht wird zwischen Ihnen beiden alles wieder gut. Jedes Paar durchlebt schwierige Zeiten.«
    Mr Gardner lächelte. »Sie sind ein lieber Junge. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir heute Abend beispringen. Aber jetzt ist keine Zeit mehr zum Reden. Lindy ist in ihrem Zimmer. Ich sehe, dass das Licht brennt.«

    Wir fuhren einen Palazzo entlang, den wir schon mindestens zweimal passiert hatten, und jetzt war mir klar, warum uns Vittorio im Kreis gefahren hatte. Mr Gardner hatte gewartet, bis hinter einem bestimmten Fenster das Licht anging, und jedes Mal, wenn wir vorbeikamen und es war dort oben dunkel, waren wir weitergefahren und hatten noch eine Runde
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