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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb
Autoren: Jaap Ter Haar
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alles dunkel.
    Blind! Er sank aufs Kissen zurück und dachte an alles, was unwiederbringlich verloren war. Keinen Sport mehr. Nicht mehr aufs Rad springen, um schnell einmal einen Freund zu besuchen. Keine Chance mehr, Arzt zu werden, wie er es immer gewollt hatte.
    Niedergeschlagener als je zuvor wartete er auf die Geräusche des neuen Tages.
    Schritte. Die Tür ging auf. War es Schwester Wil, die jetzt leise die Vorhänge aufzog?
    »Schwester Wil?« Er hörte die Angst und Verzweiflung in seiner Stimme.
    »Guten Morgen, Beer. Was ist denn?«
    Während sie zu ihm ging, richtete Beer sich auf und rief ratlos: »Schwester Wil, mein Leben, mein ganzes Leben ist verpfuscht!«
    »Aber Beer . . .« Schwester Wil legte ihren Arm um seine Schulter. Ihre Stimme klang ruhig wie immer, als ob ein verpfuschtes Leben die normalste Sache der Welt wäre: »Aber Beer, das sagt doch jeder irgendwann mal. Ich hab selber schon solche Sachen rausgehauen. Aber es stimmt natürlich nie. Jeder von uns steht immer wieder vor einem neuen Anfang!«
    »Ja. Sie haben gut reden. Sie haben noch Ihre Augen. Sie können noch sehen!«
    Einen Augenblick lang blieb es still. Angespannt still. Dann nahm Schwester Wil Beers Hand und hob sie langsam hoch: »Geh mal mit deinen Fingern vorsichtig über meine Wange. Spürst du die ledrigen Narben vom Auge bis zum Kinn?«
    »Ja«, flüsterte Beer entsetzt.
    »Ich hab mir die rechte Hälfte meines Gesichtes verbrannt, als ich fünfzehn war. Ich hatte mich damals gerade in einen Jungen verliebt, der mich seitdem nie mehr angesehen hat. Weißt du, ich sehe sehr unappetitlich aus. Die meisten Patienten erschrecken, wenn sie mich zum ersten Mal sehen.«
    »O Schwester . . .«
    Gestammel, denn Beer wusste nicht, was er jetzt noch sagen sollte. Schwester Wil lachte seineBeschämung und Unbeholfenheit mit einem kurzen, hellen Lachen fort.
    »Nimm’s dir nicht zu Herzen, Beer. Ein so großes Drama ist meine braune Narbenwange auch wieder nicht. Es ist bloß ein kleines Drama, wie es unter den Menschen Millionen gibt. Sorg dafür, Beer, dass deine Blindheit ein kleines Drama bleibt, sonst hast du kein Leben.« Schwester Wil half ihm wieder aufs Kissen zurück und machte sich etwas länger als sonst in dem kleinen Krankenzimmer zu schaffen. So gab sie Beer Zeit, die Scherben der letzten vierundzwanzig Stunden zusammenzufegen.
    Ein neuer Anfang! Beer schämte sich jetzt, dass er sich so hatte gehen lassen, denn das traurigste Kind der Welt war er noch lange nicht. Nicht im Geringsten. Wurde es nicht Zeit, endgültig von dem widerspenstigen, verbitterten, jammernden Bübchen Abschied zu nehmen, der er in den vergangenen Stunden gewesen war?
    Jeder Mensch musste schließlich über seine eigene Tragödie hinwegkommen – und Beer beschloss, für einen neuen Anfang an den Start zu gehen.
    »Beer«, sagte Schwester Wil und er hatte vollkommen vergessen, dass sie noch im Zimmer war, »was auch geschieht, immer bleiben noch Dinge, für die man dankbar sein kann. Ganz bestimmt. Mit ein bisschen Dankbarkeit lebt man viel besser als traurig und unzufrieden. Und jetzt hol ich dein Frühstück!«
    Beer sah sie in Gedanken vor sich: blond, mit blauen Augen und unendlich viel schöner als die hübsche Schwester Annie, trotz der braunen, verbrannten, narbigen Wange.
    In der dunklen Welt unter dem dicken Verband begannen sich verschiedene Dinge zu verschieben. Je mehr Beer über alles nachdachte, desto besser erkannte er, dass noch lange nicht alles verloren war. Ein anderes Leben stand vor der Tür. Ein Leben, in dem er sich mit den Fingern vorwärtstasten, auf Stimmen und Geräusche hören musste. Hände und Ohren würden fortan die Arbeit der Augen übernehmen müssen.
    Blind sein, das war wohl doch anders, als er es sich früher vorgestellt hatte. Er hatte immer gedacht, Blindheit halbiere das Leben und verurteile es zur Minderwertigkeit. Jetzt begriff er, dass er noch genau derselbe Beer war wie zuvor.
    Annemiek, die erst neun Jahre alt war, konnte das nicht begreifen. Für sie war Blindheit eine totale Katastrophe. »O Beer, ich finde das so schlimm für dich«, hatte sie mit zitterndem Stimmchen gesagt, als sie ihn zum ersten Mal im Krankenhaus besuchte.
    »So schrecklich ist das nun auch wieder nicht«, hatte er ihr geantwortet. »Blind sein ist so ähnlich wie ›im Kino sitzen‹. Du sitzt im Dunkeln und doch siehst du auf der Leinwand, was geschieht. So ist es auch mit mir. Unter dem Verband bewegen sich noch alle
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