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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb
Autoren: Jaap Ter Haar
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gefallen: »Au, Schwester, nicht so toll. Mach’s mal ’n bisschen lieb und nett. Und du brauchst auch nicht so eklig zu gucken. Oder hab ich etwa ’n Spinngewebe am Hintern?«
    »Ne, Gerrit«, antwortete die flinke SchwesterRia schlagfertig. »Deine Worte sind viel schmutziger als dein Hinterteil!«
    »Gut so, Schwester«, rief der Junker von drüben. »Das sitzt, Gerrit. Das sitzt!«
    »Schon wieder ’n Tor von Cruyff«, murmelte Gerrit, zu Beer gewandt.
    Viel schneller als in dem kleinen Krankenzimmer verrann die Zeit in Saal 3. Verrinnen. Ein sonderbares Wort. Und doch gab es genau das wieder, was mit den Tagen im Krankenhaus geschah. Sie verrannen tatsächlich, weil Saal 3 etwas von einem Wartesaal an sich hatte, einem Ruhepunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das wirkliche Leben schien stillzustehen. Spaß hatten sie jedoch genug. Von morgens bis abends flogen die Witze und Scherzworte hin und her. Vor allem, wenn der Bäcker lachen musste – und sich gleichzeitig vor Schmerzen krümmte –, konnten sie nicht mehr an sich halten. »Hört auf, hihihi, ooh, au, hihihi . . . Au, au, hört doch auf . . .!«
    Beer sah deutlich, wie der Bäcker versuchte, seinen schmerzhaft bebenden Bauch mit den Händen zu stützen. Ab und zu war auch die Stimme des Studenten zu hören: »Könnt ihr nicht mal ’n Moment still sein?«
    Gewiss will er studieren, dachte Beer, und das gelingt natürlich in all dem Lärm nicht.
    »Schmeiß doch die Bücher weg«, riet Gerrit, der ehrlich zugab, dass er noch nie ein Buch gelesen hatte. Es gab aber auch Augenblicke, in denen allerSpaß plötzlich in tiefen Ernst überging. Dann war es vor allem der Student, der ruhig und klug über das Leben sprach. Beer hatte dann das Gefühl, dass Psychologie ein sehr schönes Fach sein musste. Ob ein Blinder Psychologe werden konnte?
    Immer neue Fragen für Beer und immer wieder neue Unsicherheiten und Ängste.
    Am zweiten Morgen in Saal 3 durfte Beer zum ersten Mal aufstehen. Unsicher und schwankend – Himmel, war das schwierig – stand er auf den Beinen. Die erste Runde um sein Bett schaffte er nur, weil er sich auf den Arm von Schwester Ria stützte. Mittags musste er es allein versuchen. Gerrit ermutigte ihn: »Vorwärts, Beer. Einfach los, Junge. Es steht nichts im Wege.«
    Vor allem Gerrits wegen war Beer ein bisschen draufgängerisch und lief über das Fußende hinaus. Da hatte er die Verbindung mit seinem Bett verloren. Er blieb stehen, tastete mit seinen Händen in die Leere und hatte das panische Gefühl, jeden Moment über einen Stuhl oder sonst etwas zu stolpern. Ängstlich und verloren stand er da und die Dunkelheit unter dem Verband lähmte ihn stärker als je zuvor. Ihm wurde schwindlig. Der Fußboden schien sich zu neigen und schon beim nächsten Schritt verlor er das Gleichgewicht.
    »Keine Panik!«, rief die Stimme des Studenten, der ihn auffing und hielt. »Ohne Angst stehst du viel sicherer auf den Beinen.«
    »Mir ist so schwindlig!«
    »Ich bring dich ja zum Bett zurück. Hierher. So, ja . . .«
    Der Student legte schützend seinen Arm um Beer. Gleich darauf hatte Beer wieder das sichere Bett unter sich. Er war dem Weinen näher als dem Lachen, denn nie hatte er sich so verzweifelt hilflos gefühlt.
    »Was sind wir doch für ’n Verein«, brummte Gerrit, der sich nicht damit abfinden wollte. »Der Bäcker kann nicht lachen, der Junker nicht essen, ich kann nicht laufen und Beer kann nicht sehen. Der Einzige, der noch alles kann, ist der Student.«
    »Du bist doch nicht neidisch, Gerrit?«
    »Ich schon.«
    »Das brauchst du nicht«, sagte der Student und seine Stimme klang traurig. Zwei Tage später sollte Beer den Grund erfahren.
    Der Regen klatschte gegen die Scheiben und ein scharfer Wind fuhr heulend um das Krankenhaus. Es war einer der seltenen Augenblicke, da es still war in Saal 3.
    Gerrit schlief. Hatte er eine schlechte Nacht gehabt und holte nun das Versäumte nach? Der Bäcker blätterte in einer Zeitschrift. Jedes Mal, wenn er eine Seite umschlug, raschelte es. Der Füller des Junkers kratzte über ein Notizblatt und machte jedes Mal einen energischen Klick, wenn am Ende eines Satzes ein Punkt kam.
    Eine kleine Welt voller Geräusche, dachte Beer.Den Rest musste die Fantasie besorgen. War das genug?
    »Kämpf weiter um deine Selbstständigkeit, Beer«, hatte der Student eines Mittags gesagt. Wie sollte man das tun, wenn man nicht das Geringste sehen konnte? Würde er zum Beispiel jemals selbstständig den
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