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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb
Autoren: Jaap Ter Haar
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hatte. Er hörte wieder seine ängstliche Stimme: »Meine Augen! Wo sind meine Augen!«
    Und plötzlich begriff er mit unerbittlicher Klarheit, dass er die blonde Schwester Wil nie wirklich sehen würde. Dass er auch seine Eltern, Annemiek, die Schule und seine Freunde nie mehr sehen würde. Nie mehr würde er sich an einem Fußballspiel, am Fernsehen oder an einem Strauch in sanftgrüner Frühlingspracht erfreuen können. Die Sonne würde für ihn nie mehr aufgehen. Darüber gab es keinen Zweifel mehr, nur noch Sicherheit.
    »O Gott, ich bin blind geworden«, flüsterte Beer entsetzt und er wusste nicht, wie er damit fertigwerden sollte.
    Es dauerte eine graume Zeit, ehe die Schwester zurückkam. So hatte Beer Gelegenheit, in Ruhe zu verarbeiten, was er sich eben klargemacht hatte. Einfach war das nicht. In der dunklen Welt unter dem Verband flatterten alle möglichen Gedanken und Bilder wie ein Schwarm unruhiger Zugvögel durcheinander.
    Blind! Er erinnerte sich des Mannes mit der dunklen Brille und dem weißen Stock, der sich in einer engen Ladenstraße so hilflos vorwärtsgetastet hatte. Genauso würde er von nun an seinen Weg suchen müssen, zu Hause, in der Schule oder wo auch immer. Für den Rest seines Lebens würde er von anderen abhängig sein. Beer ballte zornigdie Fäuste, besann sich jedoch: War nicht jeder von anderen Menschen abhängig?
    Blind! Plötzlich packte ihn Angst. Würden sie ihn in eine Blindenanstalt schicken? Nein, das konnte nicht sein. Beer dachte an Vater und Mutter und an ihre Streitereien, bei denen er manchmal zwischen ihnen gestanden hatte. War es nicht denkbar, dass sie für immer auseinandergingen, wenn er nicht mehr bei ihnen war? Dieser Gedanke war unerträglich. Und dann wurde ihm bewusst, wie schrecklich es für seine Eltern sein musste, dass er blind geworden war. Wussten sie es schon?
    Blind! Verdammt, nein, er wollte nicht weinen. Er würde damit fertigwerden. Er erinnerte sich eines Satzes, den er vor längerer Zeit einmal zu seiner Mutter gesagt hatte: »Wenn man das traurigste Kind der Welt ist, braucht man mit niemandem Mitleid zu haben!« Er war damals tief betroffen gewesen vom Anblick im Krieg verstümmelter Kinder. Oder von kleinen Knirpsen, die an Lepra litten. Vielleicht auch hatte er den Satz ausgesprochen, nachdem er die apathischen Opfer einer Hungersnot im Fernsehen gesehen hatte.
    Blind! Das war schlimm, aber es gab noch schlimmere Dinge auf der Welt. Er hatte noch immer eine Zukunft. Er würde die Blindenschrift lernen müssen. Er würde sein Leben auf eine vollkommen neue Art leben müssen. Während er alles überdachte, verwunderte sich Beer, dass er über seine Blindheit mit ziemlicher Ruhe nachzudenken vermochte.
    Schritte auf dem Korridor. Das leise Öffnen der Tür. Die Stimme von Schwester Wil: »Da bin ich wieder, Berend!« Irgendetwas wurde auf das Tischchen – oder war es ein Schränkchen – neben seinem Bett gestellt.
    »Schwester?«
    »Ja?«
    »Ich bin doch blind, nicht? Für immer!«
    Einen Augenblick lang blieb es still. Beer hörte, wie die Schwester Luft holte. Er hoffte inständig, sie würde ihm eine ehrliche Antwort geben. Die Wahrheit war besser zu ertragen als Ungewissheit und falsche Hoffnung.
    Glücklicherweise war Schwester Wil klug genug, um zu wissen, dass die meisten Kinder sehr tapfer sind und allerhand Umstände auf sich nehmen, solange sie nicht von Erwachsenen verwirrt werden.
    »Ja«, sagte sie und Beer fühlte wieder ihre kühle Hand auf seinem Arm. »Deine beiden Augen sind so schwer verletzt, dass du wahrscheinlich nie mehr wirst sehen können.«
    »Ich danke Ihnen«, sagte Beer. Er war wirklich dankbar, dass sie keine Ausflucht versucht und ihn nicht mit einer halben Antwort im Ungewissen gelassen hatte. War es nicht merkwürdig, dass Schwester Wil in seinen Augen ein fantastischer Kerl war, obwohl er sie noch nie gesehen hatte? »Ich hab hier dein Frühstück. Ein Ei, Butterbrot und einen Zwieback mit Marmelade. Wollen wir mal versuchen, ob wir zusammen etwas runterkriegen?«
    »Ja«, antwortete Beer. Es war gut zu wissen, dass das Leben – wenn man auch blind war – normal weiterging. Bald würden Vater und Mutter kommen. Er würde ihnen gleich die Wahrheit sagen. Ganz einfach, so, wie Schwester Wil es getan hatte. Vielleicht würde es sie dann nicht so schockieren.
    Als die Tür aufging, war es wie das Geräusch eines leichten Windstoßes, an das sich Beer schon ein bisschen gewöhnt hatte. Die Stimme von Schwester
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