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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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erstaunliche Ähnlichkeit mit demjenigen im Laden aufwies und zudem verhext war. Genauer gesagt, war er besessen von der geplagten Seele eines Romanciers, der vor Hunger und Kälte gestorben war und dem er gehört hatte. Als er einem Anfänger in die Hände fiel, war er aus eigener Kraft bemüht, das letzte Werk des Autors, das dieser zu Lebzeiten nicht mehr hatte vollenden können, zu Papier zu bringen. Ich weiß nicht mehr, wo ich sie stahl oder woher sie sonst kam, jedenfalls hatte ich nie wieder eine ähnliche Idee. Meine Versuche, sie auf dem Papier Gestalt annehmen zu lassen, waren jedoch erbärmlich. Meine Sätze waren arm an Erfindung, und wenn ich mich darin aufschwang, klang es nach den Werbetexten, die ich jeweils an den Straßenbahnhaltestellen las. Ich schob die Schuld dem Bleistift zu und sehnte mich nach der Feder, die aus mir einen Meister machen sollte. Mein Vater verfolgte meine wechselvollen Fortschritte mit einer Mischung aus Stolz und Bange.
»Wie geht’s denn deiner Geschichte, Daniel?«
»Ich weiß nicht. Bestimmt wäre alles ganz anders, wenn ich den Füller hätte.«
Nach Ansicht meines Vaters konnte eine solche Überlegung nur einem Literaten einfallen, der buchstäblich noch in den Kinderschuhen steckte.
»Mach du nur weiter, noch bevor du deinen Erstling beendet hast, kaufe ich ihn dir.«
»Versprochen?«
Immer antwortete er mit einem Lächeln. Zum Glück für meinen Vater verlagerten sich meine literarischen Aspirationen bald auf das Gebiet der Redekunst. Dazu trug auch die Entdeckung der mechanischen Spielzeuge und jeder Art von Blechkrimskrams bei, der auf dem Markt Los Encantes zu Preisen zu finden war, die unserer häuslichen Sparsamkeit eher angemessen waren. Die kindliche Hingabe ist unstet und launenhaft, und bald hatte ich nur noch Augen für Metallbaukästen und aufziehbare Schiffe. Ich bat meinen Vater nicht mehr, mit mir Victor Hugos Füllfederhalter anschauen zu gehen, und er erwähnte ihn auch nicht mehr. Diese Welt war für mich offenbar verschwunden, aber noch lange war das Bild, das ich von meinem Vater hatte, das eines hageren Mannes in einem alten, zu großen Anzug und mit einem Hut aus zweiter Hand, den er für sieben Peseten in der Calle Condal gekauft hatte, ein Mann, der es sich nicht leisten konnte, seinem Jungen einen verflixten Füllfederhalter zu kaufen, der zwar zu nichts nütze war, ihm jedoch alles zu bedeuten schien. Als ich an jenem Abend vom Athenäum zurückkehrte, erwartete er mich im Eßzimmer mit seinem immer gleichen Ausdruck von Niederlage und Sehnsucht.
»Ich dachte schon, du hättest dich irgendwo verirrt«, sagte er. »Tomás Aguilar hat angerufen. Er sagt, ihr seid verabredet gewesen. Hast du’s vergessen?«
»Barceló, der einem mit seinem Geschwätz den Nerv tötet«, bejahte ich. »Ich wußte schon gar nicht mehr, wie ich ihn loswerden sollte.«
»Er ist ein guter Kerl, aber ein wenig lästig. Du hast bestimmt Hunger. Die Merceditas hat uns ein wenig Suppe runtergebracht, die sie für ihre Mutter gemacht hat. Dieses Mädchen ist sehr tüchtig.«
Wir setzten uns an den Tisch, um die milde Gabe der Merceditas zu kosten, der Tochter der Nachbarin aus dem dritten Stock, die nach aller Meinung wohl bald Nonne und Heilige wäre, die ich aber mehr als einmal gesehen hatte, wie sie einen Matrosen, der sie manchmal bis vors Haus begleitete und kundig befingerte, unter Küssen erstickt hatte.
»Heute abend schaust du aber grüblerisch aus«, sagte mein Vater, um ein Gespräch in Gang zu setzen.
»Das wird die Feuchtigkeit sein, sie erweitert das Hirn. Sagt Barceló.«
»Es wird wohl sonst noch etwas sein. Beschäftigt dich irgendwas, Daniel?«
»Nein. Ich habe bloß nachgedacht.«
»Worüber denn?«
»Über den Krieg.«
Mein Vater nickte düster und schlürfte schweigend seine Suppe. Er war ein zurückhaltender Mann, und obwohl er in der Vergangenheit lebte, sprach er fast nie von ihr. Ich war in der Überzeugung aufgewachsen, das stockende Voranschreiten der Zeit nach dem Ende des Bürgerkriegs, eine Welt aus Bewegungslosigkeit, Elend und heimlichem Groll, sei ebenso normal wie das Leitungswasser, und die stumme, aus den Mauern der verwundeten Stadt blutende Trauer sei das wirkliche Antlitz ihrer Seele. Eine der Besonderheiten der Kindheit ist, daß man etwas nicht zu begreifen braucht, um es zu spüren. Ist dann der Verstand schließlich in der Lage, das Geschehene zu verstehen, so sind die Wunden im Herzen schon zu tief. Als ich an diesem
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