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Bambule am Boul Mich

Bambule am Boul Mich

Titel: Bambule am Boul Mich
Autoren: Léo Malet
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Körper
eine kräftige Dosis Rauschgift mit sich herumgeschleppt hatte. Das hatte die
Autopsie ergeben, genauso wie sie unzweifelhaft ergeben hatte, daß der junge
Mann sich selbst ins Jenseits befördert hatte. Als die Flics auf ihrer
morgendlichen Runde — sie waren neugieriger gewesen als ihre Kollegen vorher —
ihn entdeckten, war er schon seit mehreren Stunden tot. Im Crépu und im France-Soir waren einige Fotos abgebildet. Auf dem ersten sah man Paul Leverrier, in der
rechten Hand einen Füllfederhalter, die linke gegen die Wange gestützt. Ein
Junge, der sich gerade Verse aus den Fingern saugt, verträumter Blick in die
Ferne, das Bewußtsein durch Rauschgift erweitert. Ein hübscher Junge, der
anscheinend, wenn man das nach einem Bild beurteilen kann, soviel Willenskraft
besaß wie der allgemein bekannte Waschlappen. Meiner Meinung nach hatte er nur
einmal im Leben einen starken Willen bewiesen: ganz zum Schluß, als er sich das
Gesicht zerschossen hatte. Auf dem zweiten Foto war sein Vater zu sehen. Ein
kräftiger Mann mit strengem Gesichtsausdruck, der „versucht hat, den Reportern
davonzulaufen“, wie es in dem Text unter dem Bild hieß. Konnte ich gut
verstehen, genauso wie ich verstehen kann, daß die Journalisten ihre Arbeit tun
müssen. Also wirklich, ich war an dem Tag verdammt verständnisvoll! Das dritte
Foto schließlich vermittelte nur eine vage und unvollständige Vorstellung von
der anmutigen Jacqueline Carrier, „ Schauspielschülerin
und Geliebte des unglücklichen jungen Mannes “. Außer diesen
sachlichen Informationen malte jedes Blatt, je nach Laune und politischer
Richtung, ein Bild vom Weltschmerz unserer Jugend.
    Ich hob meinen Blick von den
Zeitungsausschnitten und sah meine Besucherin an. Die Tränen hatten Spuren auf
dem Make-up hinterlassen. Jetzt weinte sie aber nicht mehr, knüllte nur nervös
ein Taschentuch in ihren Händen, mit dem sie ihre Augen abtupfte. Anscheinend
hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
    „Besser?“ fragte ich.
    „Ja. Entschuldigen Sie.“ Sie
schnäuzte sich.
    „Das ist doch ganz normal.“
    Ich stand auf und holte ein
Fläschchen mit Lebensgeistern und zwei aufnahmefähige Gläser aus ihrem Versteck.
Sie hatte soeben ziemlich viel Flüssigkeit verloren, und ich hatte Durst.
    „Whisky?“
    „Wenn Sie meinen.“
    Ich meinte. Sie befeuchtete
sich die Lippen in dem bernsteinfarbenen Naß. Ich setzte mich wieder, mein Glas
in der Hand.
    „Paul Leverrier“, sagte ich.
„Sie haben ihn sehr geliebt, nicht wahr?“
    „ Wir liebten uns “, verbesserte sie mich mit
Nachdruck. „Wir bedeuteten uns alles.“
    „Schon lange?“
    „Seit einem halben Jahr.“
    Ich stellte mein Glas auf die
Schreibtischplatte, klopfte meine Pfeife aus und stopfte sie langsam wieder.
Sechs Monate. Ich drehte meinen Sessel und sah durchs Fenster. Der Schnee fiel
jetzt sanft, ganz behutsam. Ein halbes Jahr. Ja, das ist genau der Zeitraum, in
dem man sich alles bedeutet, in dem man schreibt: „Bis in den Tod“, oder „Für
immer Dein“. Ein Jammer! Ich drehte meinen Sessel zurück und sah wieder den
ernsthaften Tatsachen in die Augen — na ja, mehr oder weniger ernsthaft. Ich
zeigte auf die Zeitungsartikel.
    „Und wo bleibt der Mord?“
    „Wie! Sehen Sie das nicht?“
    „Ich sehe nur einen
Selbstmord.“
    Sie schüttelte den Kopf.
    „Ich glaub nicht daran. Paul
hat sich nicht umgebracht. Er ist ermordet worden!“
    „Donnerwetter! Sie haben aber
Nerven!“
    „Na ja... ich... ich glaub
das.“
    Sie nahm einen Schluck.
    „Er hatte keinen Grund sich
umzubringen. Das haben die Zeitungen geschrieben. Man hat kein Motiv gefunden.“
    „Es ist von Depressionen die
Rede...“
    „Er war nicht deprimiert. Das
heißt... doch, etwas... ab und zu mal... wie jeder, nehme ich an. Aber nicht so
schlimm, daß... Weil... Aber begreifen Sie denn nicht, Monsieur? Wir haben uns
geliebt!“
    Doch, ein schlagendes Argument.
Ich fand es etwas schwach auf der Brust, das Argument. Damit sie das merkte,
verzog ich das Gesicht.
    „Wir haben uns geliebt...
Vielleicht wissen Sie nicht, was das bedeutet...“, fügte sie mitleidig
verächtlich hinzu.
    „Und ob“, murmelte ich. „Aber
wir sind nicht hier, um in Erinnerungen zu kramen. Jedenfalls nicht in meinen.“
    Ich leerte mein Glas, um meinen
eigenen Kummer zu ertränken.
    „Also, Sie und er, Sie liebten sich
so sehr, daß Sie kein anderes Gefühl gelten lassen können, ein stärkeres
vielleicht, das ihn zum Selbstmord getrieben
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