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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
Autoren: Wilfried Steiner
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vorsichtig Farbe vom unteren Teil des Bildes.
    Mittlerweile war ich aufgestanden und blickte ihm über die Schulter.
    »Kein Zweifel«, sagte Sebastian. »Hier drunter ist eine ältere Farbschicht.«
    »Kannst du sie denn freilegen?«
    »Kommt auf die Konsistenz der äußeren Farbe an. Wenn es Öl ist, haben wir keine Chance. Aber ich habe einen Verdacht. In wenigen Sekunden wissen wir mehr.«
    Er ging zu einem Schrank im hinteren Teil des Ateliers und entnahm ihm eine Flasche und eine Schachtel mit runden weißen Pads, die aussahen wie Utensilien zum Abschminken.
    »Destilliertes Wasser«, erklärte er. »Durch eine Kompresse aus Zellstoff wird, wenn wir Glück haben, die äußere Farbschicht angequollen.« Er tauchte eines der Pads in die Flasche und drückte es auf den rechten unteren Bildrand. Der Zellstoff sog sich mit Farbe voll.
    »Tatsächlich«, sagte Sebastian. »Es ist Leimfarbe. Es sieht aus wie Öl, es riecht wie Öl, aber es ist nur Leimfarbe. Wer immer dieses Farbgemisch fabriziert hat, ist außergewöhnlich talentiert.«
    Er setzte sich rittlings auf den Drehstuhl vor dem Arbeitstisch, legte beide Unterarme über die Lehne und schaute mich an.
    »Ich vermute, er hat zuerst das ursprüngliche Bild – was auch immer es war – mit einer Firnisschicht überzogen. Dammarharzfirnis, nehme ich an. Damit schützt er das Original. Dann hat er alles mit weißer Leimfarbe übermalt. Auf diesen weißen Untergrund hat er dann mit Leimfarbe das Mädchen mit den Pfingstrosen gemalt. Und zwar in einem Höllentempo, da Leimfarbe rasch trocknet.«
    »Und was bedeutet das jetzt?«
    »Leim quillt in Wasser«, sagte Sebastian, »das bedeutet, dass du bald sehen wirst, was sich hinter der jungen Dame verbirgt.«
    Ich atmete tief durch. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen sollte.
    Sebastian griff nach einem Behälter mit Holzspießen und einem Sack mit Watte. Er umwickelte einen der Spieße vorne mit Watte und begann mit kleinen rotierenden Bewegungen am rechten unteren Bildrand die Leimfarbe abzuwaschen. Plötzlich hielt er inne.
    »Willst du die Schöne ein letztes Mal sehen?«
    Er reichte mir das Porträt. Ich nahm es und betrachtete die kleine Stelle, an der die Farbe schon angequollen war. Dann drehte ich das Bild um. Keine Leinwand. Metall.
    »Auf welches Material«, fragte ich mit ein wenig zittriger Stimme, »ist dieses Bild eigentlich gemalt?«
    »Sieht aus wie eine Kupfertafel«, sagte Sebastian. »Ist das wichtig?«
    Mein erster Reflex war, die Flucht zu ergreifen. Nach Hause zu fahren, mich ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber dafür war es zu spät.
    »Wie lange wirst du brauchen?«, fragte ich schließlich.
    »Schwer zu sagen. Ich muss mit diesen Dingern langsam und sorgfältig vorgehen, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Ich würde sagen, es reicht, wenn du morgen Mittag wiederkommst.«
     
    Ich streifte ziellos an der Donau entlang. Es war ein lauer Sommerabend, aber anscheinend war es nur Pärchen und Familien gestattet, an der Ufermeile zu promenieren. Es musste eine Verordnung geben, die die Stadtväter in grauer Vorzeit erlassen hatten. Ich flüchtete vor dem idyllischen Gewimmel in ein unterirdisches Kellerlokal, wo ich unbehelligt meinen Gedanken nachhängen konnte. Ich versuchte Maia anzurufen, aber in der Kellerstube gab es keinen Empfang.
    Am nächsten Morgen nahm ich mir vor, die Stunden bis zum Mittag sinnvoll zu verbringen. Ich setzte mich auf die Terrasse meines Hotels und begann Jahnns Die Nacht aus Blei zu lesen. Die Zeilen verschwammen vor meinen Augen, der Sinn der Sätze drang nicht bis zu meinem Gehirn durch. Nach wenigen Seiten gab ich auf.
    Sebastian öffnete die Wohnungstür und war sichtlich irritiert, mich zu sehen.
    »Bist du schon fertig?«, fragte ich anstelle einer Begrüßung.
    »Ich sagte Mittag . Es ist neun Uhr.« Sebastian war unrasiert und hatte Ringe unter den Augen. Sein weißer Bademantel reichte ihm fast bis zu den Knöcheln.
    »Kann man schon was erkennen?«
    »Komm rein und schau’s dir selbst an.«
    Die Tischplatte war übersät mit feuchten Wattebäuschen in allen Farben.
    Mittendrin lag das Bild. Ein kleines Quadrat am rechten unteren Bildrand war bereits freigelegt.
    »Was siehst du?«, fragte Sebastian.
    »Die Spitze eines schwarzen Überschallflugzeugs«, sagte ich. »Es steuert in einem grauen Himmel auf einen gebogenen Sandstrand zu, auf dem nur eine schwarze Erhebung zu erkennen ist. Ein Baum oder eine
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