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Ausgeweidet (German Edition)

Ausgeweidet (German Edition)

Titel: Ausgeweidet (German Edition)
Autoren: Brigitte Lamberts , Annette Reiter
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Senta war noch nie in der Gerichtsmedizin. Der Geruch, ein Mix aus Desinfektionsmitteln und Formalin, verbunden mit einem süßlichen Fäulnis- und einem muffigen Verwesungsgeruch, der sich in die alten Mauern eingefressen hat, nimmt ihr sofort den Atem.
    Dr. Schwert führt sie einen langen Gang entlang, vorbei an einem großen Sektionssaal, dessen Notbeleuchtung fünf nebeneinanderstehende Sektionstische erkennen lässt. Am Ende des Ganges gelangen sie in einen bis zur Decke weiß gekachelten Raum, an dessen Stirnseite die Toten in ausziehbaren Schubladen aufbewahrt werden. Doch Clemens hat vorgesorgt und darum gebeten, dass der Tote in der Kapelle aufgebahrt wird, die sie gerade erreichen. Behutsam schlägt der Gerichtsmediziner das Laken so vom Gesicht des Toten, dass man die Kopfwunde nicht sehen kann. Senta schaut kurz hin, wendet sich ab, atmet einmal durch und betrachtet das Gesicht dann etwas länger. Langsam nickt sie, schaut kurz zu Clemens hinüber, dreht sich um und geht eilig zurück zum Ausgang.
    Als Maria und Clemens das Gebäude verlassen, sitzt Senta Hartmann auf einer der Parkbänke vor dem Gerichtsmedizinischen Institut. »Bitte bringen Sie mich nach Hause. Ich fühle mich nicht wohl.«
    Auf dem Weg nach Golzheim lassen Clemens und Maria die Sängerin erst einmal in Ruhe. Sie hat sich erschöpft in den Rücksitz fallen lassen. Plötzlich fragt sie: »Sind Sie sicher, dass er umgebracht wurde?«
    »Ja, alles spricht dafür«, erwidert Clemens.
    »Wie ist es passiert?«
    »Er wurde im Grafenberger Wald erschossen.«
    »Wann?«
    »Freitag, der genaue Todeszeitpunkt steht noch nicht fest.«
    »Deswegen die Frage, wo ich war.«
    »Ja. Und auch wenn es sich abgedroschen anhört, aber wir müssen diese Frage stellen.« Maria dreht sich zu der Sängerin um und schaut in ein paar funkelnde Augen. »Als wenn ich nicht schon genug durchgemacht hätte. Wenn man Hilfe braucht, ist niemand da, auch von der Polizei nicht.«
    Wütend rüttelt sie am Beifahrersitz. »Eine Zumutung, mich hierher zu bringen und dann auch noch des Mordes zu verdächtigen.« Dann bricht sie in lautes Schluchzen aus. Maria blickt zu Clemens hinüber, der ihr mit einer Handbewegung zu verstehen gibt, Senta Hartmann erst einmal sich selbst zu überlassen.
    So überraschend sie die Beherrschung verloren hat, so schnell hat sie sich wieder im Griff. Sie räuspert sich kurz. »Ich habe meinen Ex-Mann nicht umgebracht.«
    Maria versucht erneut einen Vorstoß, in der Hoffnung, nicht gleich wieder für eine sehr emotionale Darbietung verantwortlich zu sein.
    »Was meinten Sie damit, keine Hilfe bekommen zu haben?«
    »Was glauben Sie, wie oft ich mit meiner Tochter Marie bei der Kinderschutzambulanz zur therapeutischen Diagnostik war. Keiner konnte oder wollte mir helfen. Immer wieder musste ich mich gegen die Verdächtigungen wehren, ich hätte weggeschaut, womöglich meinen Ex-Mann geschützt oder würde nur Rache an ihm nehmen wollen.«
    »Wieso hat die Diagnostik nichts erbracht?«, will Maria wissen.
    »Weil Marie zu dem Zeitpunkt noch nicht gesprochen hat. Sie ist ja stark entwicklungsverzögert. Erst bei der Zweitdiagnostik vier Jahre später fand man heraus, dass Marie eine massive Angst vor ihrem Vater hat. Damals war man sich schon zu achtzig Prozent sicher, dass ein Missbrauch durch den Vater stattgefunden hat. Doch das Einzige, was ich erreichen konnte, war, dass er nur noch betreuten Umgang bekam.«
    »Und warum haben Sie keine Anzeige erstattet?«
    Bevor Senta antworten kann, erklärt Clemens die vielen Fragen, denn er bemerkt, dass Senta wieder kurz davor ist, ihr emotionales Gleichgewicht zu verlieren.
    »Wir hatten noch keine Zeit, die Gerichtsakten zu studieren. Verstehen Sie unsere Fragen daher bitte nicht falsch.«
    »Ich habe ja Anzeige erstattet, aber meine Anwältin hat mir damals geraten, sie wieder zurückzunehmen. Marie war einfach noch zu klein. Wenn es zum Verfahren gekommen wäre und wenn mein Ex-Mann freigesprochen worden wäre, hätte die Gefahr bestanden, dass er wieder Umgang mit Marie bekommt, oder man hätte mir womöglich das Sorgerecht entzogen.«
    »Wann kam es dann zur Anzeige?«
    »Viele Jahre später, als Marie achtzehn war. Sie lebt seit 2003 in einem Heim. In Begleitung einer Betreuerin hat sie vor zwei Jahren ihren Vater wegen sexuellem Missbrauch angezeigt.«
    Mittlerweile haben sie das Haus von Frau Hartmann erreicht. Diese verabschiedet sich von den Kommissaren. Sie wirkt ruhiger, wenn auch immer
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