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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman
Autoren: PeP eBooks
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wußte, was das Schleifchen zu bedeuten hatte: Daß er einverstanden war, sie noch einmal wiederzusehen.
    Sie war so aufgeregt, daß sie vergebens versuchte, sich auf die geheimnisvolle Stimmung, mit der der erste Satz der Symphonie begann, zu konzentrieren, auf die fortwährende Metamorphose der eingangs exponierten, schattenhaft auf und ab gleitenden Intervalle, in der die Musik nicht gleich Gestalt annehmen wollte, sondern erst im Widerstreit von Vierteln und Triolen stockend und nur mit Unterbrechungen, mit Pausen und Wiederholungen ihre harmonische Basis finden mußte.
    Ihr Herz klopfte wie das eines jungen Mädchens vor dem ersten Rendezvous, und tausend törichte Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Was soll ich anziehen? Wo werden wir uns treffen? In Wien? Nein, nicht in Wien, lieber in New York auf meinem eigenen Terrain. Ich lade ihn in meine Wohnung ein, oder wir verabreden uns zum Mittagsessen im Rockefeller Center. Ob er mich wohl gleich wiedererkennt? Schließlich war sie eine alte Frau geworden.
    In prunkenden Orchestereffekten floß unterdessen der Musikstrom dahin. Die Bläser erstrahlten in kristalliner Klarheit und Tonschönheit, und die Streicher flimmerten und flirrten in einer ungeheuren Farbenpracht. Sie bemühte sich ernstlich, darin zu versinken, sich dem Mysterium der Symphonie ganz auszuliefern, das sie in ihrem Innersten traf. Doch etwas in ihr wehrte sich gegen diese in Töne und Klänge gemeißelte Sehnsucht nach Erlösung und Tod, und ihre Gedanken strebten immer wieder weg von der Musik. Vielleicht sollte sie, bevor sie starb, noch einmal nach Wien zurückkehren, sich mit ihm in Döbling oder Donnerskirchen treffen und die alten Plätze besuchen. So wie Mönche im Mittelalter vor ihrem Tod in einer Art Wallfahrt alle Stationen ihrer vita contemplativa noch einmal aufsuchten, an denen die Vergangenheit ihnen noch eine Geschichte zu erzählen hatte.
    Welche Geschichte hätte Wien ihr noch zu erzählen? Keine heitere, über die sie lachen könnte. Vielmehr eine in Verstoß geratene, wie man dort zu sagen pflegte, eine, die geprägt war von Mangel und Verlust, Vertreibung und Unversöhnlichkeit. Hingegen könnte sie dann endlich das Grab ihres Vaters aufsuchen, von dem sie sich nicht sicher war, ob es überhaupt noch existierte. Und da sie nun mal keine orthodoxe Jüdin war, könnte sie ihm Kaddisch sagen, als wäre sie sein Sohn gewesen. An seiner Seite mochte sie beerdigt sein, so körperlich verbunden fühlte sie sich mit ihm, als die Todesverkündung des ersten Satzes nach einem dreimaligen leisen Paukenwirbel in der Coda unter ständig sich wiederholenden Sechzehnteln und dem monotonen Klopfen einer Pauke ausklang, als schlüge eine Totenuhr.
    Nach einer kurzen Pause, in der die Instrumente unter dem Räuspern und Gehüstel des Publikums nachgestimmt wurden, gab Karl den Einsatz zu einem ländlichen Reigen gespenstisch dahineilender Streicherpassagen, der Franziska mit seinem hartnäckig sich wiederholenden Rhythmus schier in einen Drehschwindel versetzte, wie damals, als sie ihm die Sahnetorte in den Mund geschoben hatte. Es war ein bizarrer Tanz, den Karl auf der Leinwand dazu aufführte, ein Scherzo, das von Trompeten- und Posaunengeschmetter immer wieder unterbrochen wurde, nur um erneut Fahrt aufzunehmen. Karl schlenkerte mit den Armen wie ein Totengerippe, wackelte mit dem Kopf, und sein dünner Hals ruckte dabei vor und zurück wie die Kehle eines gullernden Truthahns. Sein ganzer Körper zuckte und bockte, als wollte er jene Last abwerfen, an der er, wie sie wußte, ein Leben lang getragen hatte.
    In der Pause vor dem Adagio studierte sie mit neugieriger, fast frecher Aufmerksamkeit sein Mienenspiel, das sie wie keine andere kannte und in dem sie lesen konnte wie in einem Buch. Sie registrierte jeden Wimpernschlag, jedes Lächeln und jeden Schweißtropfen auf seiner Stirn. Sie sah, wie die Spitze seines Taktstocks im Rhythmus seines Herzschlags pulsierte, und als die Finger der linken Hand sich öffneten und er den Einsatz zum Adagio gab, buchstabierte sie auf seinen Lippen, die sich stumm bewegten, ihren Namen.
    Es folgte ein knapper Schlag, und im Synkopenrhythmus langgezogener, tiefer, ostinater Streichertöne erklangen Klagelaute wie aus fernen Sphären. Für einen kurzen Augenblick wanderte eine dicke Schliere über Karl auf der Projektionsleinwand hinweg, und Franziska wußte, daß sich etwas Schlimmes ereignet haben mußte, denn das rote Schleifchen, das er gerade noch
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