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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
Autoren: Mo Hayder
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Daumennagel und sah zu, wie Isabelle in der Küche hantierte, sah den vertrauten, kräftigen Rücken, die zweckmäßigen schlammfarbenen Shorts, die Bluse, die mit Blütenzweigen bedruckte Schürze. Sie waren seit Jahren befreundet, und Isabelle war der Mensch, dem Sally am meisten vertraute und bei dem sie sich zuallererst Rat holte. Trotzdem genierte sie sich jetzt ein wenig, über das zu sprechen, was sie beschäftigte.
    Aber schließlich ging sie doch zu ihrer Tasche und zog eine blaue Mappe heraus. Sie war schäbig und wurde nur mit einem Gummiband zusammengehalten. Sally kam damit zum Tisch, legte sie neben die Weingläser, zog das Gummiband ab und nahm den Inhalt heraus. Handgemalte Karten, geschmückt mit Perlen, Schleifen und Federn, alles mit klarem Lack überzogen. Sie legte sie auf den Tisch und saß unschlüssig da, halbwegs bereit, alles wieder zusammenzuraffen und in ihre Tasche zu stecken.
    »Sally?« Isabelle nahm den Topf vom Herd und rührte weiter darin, als sie herüberkam, um sich die Karten anzusehen. »Die hast du doch nicht etwa selbst gemacht, oder?« Sie betrachtete die oberste. Sie zeigte eine Frau mit einem violetten, mit Sternen besetzten Tuch, das sie sich vor das Gesicht gezogen hatte, sodass nur noch die Augen zu sehen waren. »Gott – wie schön. Was ist das?«
    »Tarotkarten.«
    »Tarot? Hast du plötzlich ein Faible für Esoterik? Wirst du uns allen die Zukunft weissagen?«
    »Selbstverständlich nicht.«
    Isabelle setzte den Topf ab und nahm die zweite Karte in die Hand. Abgebildet war eine hochgewachsene Frau, die einen großen, durchsichtigen Stern auf Armlänge vor sich hielt. Es sah aus, als schaue sie durch ihn hindurch zu den Wolken und der Sonne hinauf. Ihre zerzausten, grau gesträhnten Locken reichten weit über den Rücken hinunter. Isabelle lächelte verlegen. »Das bin doch nicht etwa ich, oder?«
    »Doch.«
    »Im Ernst, Sally? Das Dekolleté schmeichelt mir aber, wenn ich das sagen darf.«
    »Wenn du sie alle anschaust, wirst du jede Menge bekannte Gesichter entdecken.«
    Isabelle blätterte in den Karten und hielt ab und zu inne, wenn sie jemanden erkannte. »Sophie! Und Millie. Du hast uns alle gemalt. Die Kinder auch. Sie sind wunderschön .«
    »Ich hab mich gefragt«, sagte Sally zögernd, »ob ich sie vielleicht verkaufen kann. Zum Beispiel an den Hippieladen in Northumberland Place. Was meinst du?«
    Isabelle drehte sich um und warf ihr einen seltsamen Blick zu, halb verwundert, halb amüsiert, als wüsste sie nicht, ob Sally einen Witz machte oder nicht.
    Sofort war Sally klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Hastig schob sie die Karten zusammen und spürte, wie ihr vor lauter Verlegenheit die Röte am Hals heraufkroch. »Nein … ich meine, natürlich sind sie nicht gut genug. Das wusste ich schon.«
    »Nein, räum sie nicht weg. Sie sind toll. Wirklich toll. Es ist nur so, dass … meinst du wirklich, du kriegst dafür so viel, dass es dir – du weißt schon, dass es dir bei deinen … Schulden hilft?«
    Sally starrte die Karten an. Ihr Gesicht glühte. Sie hätte gar nicht davon anfangen sollen. Isabelle hatte recht; sie würde für diese Karten kaum etwas bekommen. Auf keinen Fall genug, um ihren Schuldenberg auch nur anzukratzen. Sie war dumm. So dumm.
    »Aber nicht, weil sie nicht gut sind, Sally. Sie sind ausgezeichnet! Ehrlich, sie sind toll. Sieh dir die hier an!« Isabelle hielt Millies Porträt hoch. Die kleine, verrückte Millie, immer kleiner als die andern und das genaue Gegenteil von Sally, mit ihrem Zickzackpony und dem wirren, zottigen roten Haar, mit dem sie aussah wie ein kleines nepalesisches Straßenkind. Ihre Augen waren so wild und rund wie die eines Tieres – genau wie bei Millies Tante Zoë. »Sie ist einfach super. Genau so sieht sie aus. Und die hier mit Sophie – sie ist hinreißend. Hinreißend! Und Nial. Und Peter.« Nial war Isabelles schüchterner Sohn, ihr älteres Kind, und Peter Cyrus war sein gut aussehender Freund, ein Draufgänger und besonders beliebt bei den Mädchen. »Und Lorne – sieh sie nur an … und noch mal Millie. Und noch mal Sophie, und dann ich. Und …« Sie brach plötzlich ab und starrte eine Karte an. »Oh«, sagte sie schaudernd. »Oh.«
    »Was?«
    »Ich weiß nicht. Irgendwas stimmt nicht mit der Farbe auf dieser da.«
    Sally zog die Karte heran. Es war die Prinzessin der Stäbe. Sie trug ein wirbelndes rotes Kleid und hielt mit Mühe einen Tiger zurück, der an der Leine zerrte. Auch hier
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