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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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feierlichen Gottesdiensten und Fernsehdiskussionen. Das Fernsehen bringt auch ihn um den Rest von Scham, den ich ihm zubilligen muß.
    Wenn unser Zeitalter einen Namen verdient,
    müßte es Zeitalter der Prostitution heißen. Die Leute gewöhnen sich ans Hurenvokabularium. Ich traf Sommerwild einmal nach einer solchen Diskussion (»Kann moderne Kunst religiös sein?«), und er fragte mich: »War ich gut? Fanden Sie mich gut?« wortwörtlich Fragen, wie sie Huren ihren abziehenden Freiern stellen. Es fehlte nur noch, daß er gesagt hätte: »Empfehlen Sie mich weiter.« Ich sagte ihm damals: »Ich finde Sie nicht gut, kann Sie also gestern nicht gut gefunden haben.« Er war vollkommen niedergeschlagen, obwohl ich meinen Eindruck von ihm noch sehr schonend ausgedrückt hatte. Er war abscheulich gewesen; um ein paar billiger Bildungspointen willen hatte er seinen Gesprächspartner, einen etwas hilflosen Sozialisten, »geschlachtet« oder »abgeschossen«, vielleicht auch nur »zur Sau gemacht«. Listig, indem er fragte: »So, Sie finden also den frühen Picasso abstrakt?« brachte er den alten, grauhaarigen Mann, der etwas von Engagement murmelte, vor zehn Millionen Zuschauern um, indem er sagte: »Ach, Sie meinen wohl sozialistische Kunst - oder gar sozialistischen Realismus?«
    Als ich ihn am anderen Morgen auf der Straße traf und ihm sagte, ich hätte ihn schlecht gefunden, war er wie vernichtet. Daß einer von zehn Millionen ihn nicht gut gefunden hatte, traf seine Eitelkeit schwer, aber er wurde durch eine »wahre Welle des Lobes« in allen katholischen Zeitungen reichlich entschädigt. Sie schrieben, er habe für die »gute Sache« einen Sieg errungen.
    Ich steckte mir die drittletzte Zigarette an, nahm die Guitarre wieder hoch und klimperte ein bißchen vor mich hin. Ich dachte darüber nach, was ich Leo alles erzählen, was ich ihn fragen wollte. Immer, wenn ich ernsthaft mit ihm reden mußte, machte er entweder Abitur oder hatte Angst vor einem Scrutinium. Ich überlegte auch, ob ich wirklich die Lauretanische Litanei singen sollte; besser nicht: es könnte einer auf die Idee kommen, mich für einen Katholiken zu halten, sie würden mich für
    »einen der unsrigen« erklären, und es könnte eine hübsche Propaganda für sie draus
    machen sich ja alles »dienstbar«, und das Ganze würde mißverständlich und verwirrend wirken, daß ich gar nicht katholisch war, nur die Lauretanis ehe Litanei schön fand und Sympathie mit dem Judenmädchen empfand, dem sie gewidmet war, sogar das würde niemand verstehen, und durch irgendwelche Drehs würden sie ein paar Millionen Katholons an mir entdecken, mich vors Fernsehen schleppen - und die Aktienkurse würden noch mehr steigen. Ich mußte mir einen anderen Text suchen, schade, ich hätte am liebsten wirklich die Lauretanische Litanei gesungen, aber auf der Bonner Bahnhofstreppe konnte das nur mißverständlich sein. Schade. Ich hatte schon so nett geübt und konnte das Ora pro nobis so hübsch auf der Guitarre intonieren.
    Ich stand auf, um mich für den Auftritt fertig zu machen. Sicher würde auch mein Agent Zohnerer mich »fallen lassen«, wenn ich anfing, auf der Straße zur Guitarre Lieder zu singen. Hätte ich wirklich Litaneien, Tantum ergo und all die Texte gesungen, die ich so gern sang und in der Badewanne jahrelang geübt hatte, so wäre er vielleicht noch »eingestiegen«, das wäre eine gute Masche gewesen, ungefähr so wie Madonnenmalerei. Ich glaubte ihm sogar, daß er mich wirklich gern hatte - die Kinder dieser Welt sind herzlicher als die Kinder des Lichts -, aber »geschäftlich« war ich für ihn erledigt, wenn ich mich auf die Bonner Bahnhofstreppe setzte.
    Ich konnte wieder laufen, ohne merklich zu humpeln. Das machte die Apfelsinenkiste überflüssig, ich brauchte mir nur unter den linken Arm ein Sofakissen, unter den rechten die Guitarre zu klemmen und zur Arbeit zu gehen. Zwei Zigaretten besaß ich noch, eine würde ich noch rauchen, die letzte würde in dem schwarzen Hut verlockend genug aussehen; wenigstens eine Münze daneben wäre gut gewesen. Ich suchte in meinen Hosentaschen, krempelte sie um; ein paar Kinobillets, ein rotes Mensch-ärgere-dich-nicht-Püppchen, ein verschmutztes Papiertaschentuch,
    aber kein Geld. Ich riß in der Diele die Garderobenschublade auf: eine Kleiderbürste,
    Bierflasche, kein Geld. Ich wühlte in der Küche sämtliche Schubladen durch, rannte ins Schlafzimmer, suchte zwischen Kragenknöpfchen, Hemdenstäbchen,
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