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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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ich tot bin — sie wird Züpfner verlassen, von Hotel zu Hotel fahren und nach mir fragen, vergebens.
    Mein Vater wird die Tragik voll auskosten, voller Reue darüber sein, daß er mir nicht wenigstens ein paar Lappen heimlich auf den Garderobekasten legte, als er wegging. Karl und Sabine werden weinen, hemmungslos, auf eine Weise, die allen Teilnehmern am Begräbnis unästhetisch vorkommen wird. Sabine wird heimlich in Karls Manteltasche greifen, weil sie wieder ihr Taschentuch vergessen hat. Edgar
    wird sich verpflichtet fühlen, die Tränen zu unterdrücken, und vielleicht nach der
    Hundertmeterstrecke noch einmal abgehen, allein zum Friedhof zurückgehen und an der Gedächtnisplakette für Henriette einen großen Strauß Rosen niederlegen. Außer mir weiß keiner, daß er in sie verliebt war, keiner weiß, daß die gebündelten Briefe, die ich verbrannte, alle hinten als Absender nur E. W. trugen. Und ich werde ein weiteres Geheimnis mit ins Grab nehmen: daß ich Mutter einmal beobachtete, wie sie im Keller heimlich in ihre Vorratskammer ging, sich eine dicke Scheibe Schinken abschnitt und sie unten aß, stehend, mit den Fingern, hastig, es sah nicht einmal widerwärtig aus, nur überraschend, und ich war eher gerührt als entsetzt. Ich war in den Keller gegangen, um in der Kofferkammer nach alten Tennisbällen zu suchen, verbotenerweise, und als ich ihre Schritte hörte, knipste ich das Licht aus, ich sah, wie sie ein Glas eingemachtes Apfelmus aus dem Regal nahm, das Glas noch einmal absetzte, sah nur die Schneidebewegung ihrer Ellenbogen, und dann stopfte sie sich die zusammengerollte Scheibe Schinken in den Mund. Ich habs nie erzählt und werde es nie erzählen. Unter einer Marmorplatte in der Schniergruft wird mein Geheimnis ruhen. Merkwürdiger- weise mag ich die, von deren Art ich bin: die Menschen.
    Wenn einer von meiner Art stirbt, bin ich traurig. Sogar am Grab meiner Mutter würde ich weinen. Am Grab des alten Derkum konnte ich mich gar nicht fassen; ich schaufelte immer mehr und mehr Erde auf das nackte Holz des Sarges und hörte hinter mir jemanden flüstern, das sei ungehörig - aber ich schaufelte weiter, bis Marie mir die Schuppe aus der Hand nahm. Ich wollte nichts mehr sehen von dem Laden, dem Haus, wollte auch kein Andenken an ihn haben. Nichts. Marie war nüchtern, sie verkaufte den Laden und tat das Geld weg »für unsere Kinder«.
    Ich konnte schon, ohne zu humpeln, in die Diele gehen, meine Guitarre holen. Ich knöpfte die Hülle ab, schob im Wohnzimmer zwei Sessel gegeneinander, zog das Telefon zu mir hin, legte mich wieder und stimmte die Guitarre. Die wenigen Töne
    taten mir wohl. Als ich anfing zu singen, fühl-
    te ich mich fast wohl: mater amabilis - mater admirabilis — das orapro nobis intonierte ich auf der Guitarre. Die Sache gefiel mir. Mit der Guitarre in der Hand, den offenen Hut neben mir, mit meinem wahren Gesicht würde ich auf den Zug aus Rom warten. Mater boni consilii. Marie hatte mir doch gesagt, als ich mit dem Geld von Edgar Wieneken kam, daß wir uns nie, nie mehr trennen würden: »Bis daß der Tod uns scheidet.« Ich war noch nicht tot. Frau Wieneken sagte immer: »Wer singt, lebt noch« und: »Wems schmeckt, der ist noch nicht verloren.« Ich sang und hatte Hunger. Am wenigsten konnte ich mir Marie seßhaft vorstellen: wir waren mitein- ander von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel gezogen, und wenn wir irgendwo ein paar Tage blieben, sagte sie immer: »Die offenen Koffer starren mich an wie Mäuler, die gestopft werden wollen«, und wir stopften den Koffern die Mäuler, und wenn ich wo ein paar Wochen bleiben mußte, lief sie durch die Städte wie durch ausgegrabene Städte. Kinos, Kirchen, unseriöse Zeitungen, Mensch-ärgere-dich-nicht. Wollte sie wirklich an dem großen feierlichen Hochamt teilnehmen, wenn Züpfner zum Malteserritter geschlagen wurde, zwischen Kanzlern und Präsidenten, zu Hause mit eigener Hand die Wachsflecken aus dem Ordenshabit bügeln? Geschmackssache, Marie, aber nicht dein Geschmack. Es ist besser, auf einen ungläubigen Clown zu vertrauen, der dich früh genug weckt, damit du pünktlich zur Messe kommst, der dir notfalls ein Taxi zur Kirche spendiert. Mein blaues Trikot brauchst du nie zu waschen.

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    Als das Telefon klingelte, war ich einige Augenblicke verwirrt. Ich hatte mich ganz darauf konzentriert, die Wohnungsklingel nicht zu überhören und Leo die Tür zu öffnen. Ich legte die Guitarre aus der Hand, starrte auf den
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