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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina
Autoren: Lew Tolstoi
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seiner Frau und drückte ihr, damit sie ihm seine ärgerliche Aufwallung verzeihen möchte, von der
    Kinderfrau unbemerkt, die Hand.

18
    Ljewin hatte zwar mit der Umwandlung, die mit ihm hätte vorgehen sollen, eine Enttäuschung erlebt; aber diesen
    ganzen Tag über, auch während der sehr verschiedenartigen Gespräche, an denen er sich gleichsam nur mit der
    Außenseite seines Verstandes beteiligte, empfand er trotzdem dauernd mit hoher Freude, wie voll sein Herz war.
    Nach dem Regen war es zu naß, als daß man hätte spazierengehen können; zudem waren immer noch Gewitterwolken am
    Horizont sichtbar und zogen bald hier, bald dort, bedrohlich durch ihre schwarze Färbung und ihr Donnern, am Rand
    des Himmels hin. Die ganze Gesellschaft verbrachte den übrigen Teil des Tages im Hause.
    Streitfragen wurden nicht mehr aufgeworfen; vielmehr befanden sich alle nach dem Mittagessen in bester
    Laune.
    Katawasow brachte zunächst die Damen durch jene besondere Art von Späßchen zum Lachen, die immer bei der ersten
    Bekanntschaft mit ihm soviel Beifall fanden; dann aber erzählte er auf Sergei Iwanowitschs Aufforderung von seinen
    sehr interessanten Beobachtungen über die Unterschiede im Wesen und selbst im Aussehen der Männchen und Weibchen
    der Stubenfliege sowie über ihre Lebensweise. Auch Sergei Iwanowitsch war sehr vergnügt und setzte beim Tee, von
    seinem Bruder dazu angeregt, seine Ansichten über die zukünftige Gestaltung der orientalischen Frage auseinander,
    und zwar in einer so einfachen, hübschen Weise, daß alle ihm mit Vergnügen zuhörten.
    Nur Kitty konnte seine Darlegungen nicht bis zu Ende mit anhören, da sie abgerufen wurde, um den kleinen Dmitri
    zu baden.
    Einige Minuten nachdem Kitty hinausgegangen war, wurde auch Ljewin gebeten, zu ihr ins Kinderzimmer zu
    kommen.
    Bedauernd, daß er im Anhören der fesselnden Darstellung unterbrochen wurde, und zugleich voll Unruhe, weshalb er
    wohl gerufen werde, da dies nur aus wichtigen Ursachen zu geschehen pflegte, ließ Ljewin seinen Tee stehen und ging
    nach dem Kinderzimmer.
    Obgleich Sergei Iwanowitschs Plan, den er nicht bis zu Ende hatte mit anhören können, als etwas ihm vollständig
    Neues sein größtes Interesse erregte (nämlich der Plan, wie das befreite, vierzig Millionen umfassende Slawenland
    mit Rußland zusammen einen neuen Zeitabschnitt der Weltgeschichte beginnen sollte) und obwohl er von Neugier und
    Unruhe erfüllt war, weshalb man ihn wohl rufen möge, so kamen ihm dennoch, sobald er das Zimmer verlassen hatte und
    allein war, sofort wieder die Gedanken in den Sinn, mit denen er sich am Morgen beschäftigt hatte. Und alle diese
    Überlegungen über die Bedeutung des Slawentums in der Weltgeschichte erschienen ihm so nichtig im Vergleich mit
    dem, was in seiner Seele vorging, daß er dies alles augenblicklich vergaß und sich wieder in dieselbe Stimmung
    zurückversetzt fühlte, in der er sich am Morgen dieses Tages befunden hatte.
    Er rief sich jetzt nicht, wie das früher seine Gewohnheit war, seinen ganzen Gedankengang ins Gedächtnis zurück;
    dessen bedurfte er jetzt nicht. Er versetzte sich mit einem Schlage in jenes Gefühl hinein, das ihn geleitet hatte
    und das mit diesen Gedanken verknüpft war, und fand, daß dieses Gefühl sich in seiner Seele zu noch größerer Stärke
    und Bestimmtheit entwickelt hatte als vorher. Jetzt widerfuhr ihm nicht, was ihm bei früheren kunstvoll
    ausgesonnenen Versuchen der Selbstberuhigung oft begegnet war, wo er den ganzen Gedankengang wieder hatte
    zurückverfolgen müssen, um das beruhigende Gefühl zu finden. Jetzt war ganz im Gegenteil das Empfinden der Freude
    und Beruhigung in seiner Seele lebendiger als vorher, und das Denken konnte mit dem Fühlen nicht Schritt
    halten.
    Er ging über die Terrasse und blickte zu zwei Sternen hinauf, die an dem bereits dunkel gewordenen Himmel
    hervortraten, und auf einmal fiel ihm ein: ›Ja, als ich zum Himmel hinaufsah, da überlegte ich, daß das Gewölbe,
    das ich sehe, keine Unwahrheit ist, und dabei dachte ich irgendeinen Gedanken nicht zu Ende, ich verbarg etwas vor
    mir selbst‹, sagte er bei sich. ›Aber was es auch gewesen sein mag, eine Widerlegung des gewonnenen Ergebnisses
    kann es nicht sein. Ich brauche nur darüber nachzudenken, so wird mir alles klarwerden.‹
    Unmittelbar vor der Tür des Kinderzimmers fiel ihm ein, was das gewesen war, was er vor sich selbst verborgen
    hatte. Es war die Frage gewesen: Wenn der Hauptbeweis für
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