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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina
Autoren: Lew Tolstoi
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erblickt hatte, in der Hand den unglückseligen Brief, der alles
    verraten hatte.
    Sie, die sonst stets sorglich geschäftige und seiner Ansicht nach etwas beschränkte Dolly, hatte mit dem Briefe
    in der Hand regungslos dagesessen und den Eintretenden mit einer Miene des Schreckens, der Verzweiflung und des
    Zornes angeblickt.
    »Was ist das hier? Was ist das?« hatte sie, auf das Schreiben deutend, ihn gefragt.
    Als peinlich und beschämend empfand Stepan Arkadjewitsch bei dieser Erinnerung, wie das oft so geht, weniger den
    Vorfall selbst, als vielmehr die Art, wie er auf diese Worte seiner Frau geantwortet hatte.
    Es war ihm in diesem Augenblick ergangen, wie es nicht selten Leuten ergeht, die unversehens auf einer recht
    schmählichen Tat ertappt werden. Er hatte es nicht verstanden, seine Miene der Lage anzupassen, in die er seiner
    Frau gegenüber durch die Aufdeckung seines Vergehens geraten war. Anstatt den Gekränkten zu spielen, zu leugnen,
    sich zu rechtfertigen, um Verzeihung zu bitten oder auch einfach nur gleichgültig zu bleiben (alles dies wäre
    besser gewesen als das, was er in Wirklichkeit getan hatte), statt dessen hatte sein Gesicht ganz unwillkürlich
    (›Reflexe des Gehirns‹, dachte Stepan Arkadjewitsch, der sich gern ein bißchen mit Physiologie abgab) sich zu
    seinem gewohnten gutmütigen und daher in diesem Falle dummen Lächeln verzogen.
    Dieses dumme Lächeln konnte er sich nicht verzeihen. Beim Anblicke dieses Lächelns war Dolly wie infolge eines
    körperlichen Schmerzes zusammengezuckt, hatte mit der ihr eigenen Heftigkeit einen Strom scharfer Worte
    hervorgesprudelt und war aus dem Zimmer geeilt. Seitdem hatte sie ihren Mann nicht mehr sehen wollen.
    ›An alledem ist dieses dumme Lächeln schuld‹, dachte Stepan Arkadjewitsch.
    ›Aber was ist zu machen? Was ist zu machen?‹ fragte er sich in seiner Verzweiflung und fand keine Antwort
    darauf.
Fußnoten
    1 Mein Schatz.

2
    Stepan Arkadjewitsch war sich selbst gegenüber stets aufrichtig und wahrheitsliebend. Er war unfähig, sich
    selbst zu betrügen und sich einzureden, daß er das Getane bereue. Zur Zeit war er nicht imstande, Reue darüber zu
    empfinden, daß er, ein vierunddreißigjähriger, hübscher, liebeslustiger Mann, nicht mehr in seine Frau verliebt
    war, die ihm fünf noch lebende und zwei bereits verstorbene Kinder geboren hatte und nur um ein Jahr jünger war als
    er selbst. Das einzige, was er bereute, war, daß er es nicht besser verstanden hatte, seiner Frau die Sache zu
    verheimlichen. Aber er empfand in vollem Umfange die Mißlichkeit seiner Lage und bedauerte seine Frau, die Kinder
    und sich selbst. Vielleicht hätte er sich auch erfolgreicher bemüht, seine Sünden vor seiner Frau zu verbergen,
    wenn er geahnt hätte, daß diese Nachricht auf sie so stark wirken würde. Klar nachgedacht hatte er über diesen
    Punkt allerdings nie: aber er hatte die undeutliche Vorstellung gehabt, seine Frau ahne schon längst, daß er ihr
    untreu sei, sehe aber dabei durch die Finger. Er war sogar der Ansicht, eine schon so welke, gealterte, bereits
    unschöne Frau, die nichts Besonderes an sich habe, sondern lediglich eine einfache, brave Familienmutter sei, müsse
    aus einer Art von Gerechtigkeitsgefühl heraus sich nachsichtig zeigen. Und nun hatte er gerade das Gegenteil davon
    erlebt.
    ›Schauderhaft! O weh, o weh, schauderhaft!‹ sagte Stepan Arkadjewitsch einmal über das andere vor sich hin, ohne
    daß er einen Ausweg ersinnen konnte. ›Und wie nett war alles bisher, wie gut haben wir miteinander gelebt! Sie war
    zufrieden und glücklich über ihre Kinder; ich kam ihr in keiner Weise in die Quere und ließ sie bei den Kindern und
    beim Hauswesen herumwirtschaften, wie sie wollte. Freilich, daß »sie« in unserem Hause Gouvernante gewesen ist, das
    ist übel. Das ist übel. Es liegt immer etwas Gewöhnliches, Unwürdiges darin, wenn man einer Gouvernante der eigenen
    Kinder den Hof macht. Aber was ist diese Gouvernante auch für ein Weib!‹ (Er erinnerte sich lebhaft an Mademoiselle
    Rolands schwarze Schelmenaugen und an ihr reizendes Lächeln.) ›Aber solange sie bei uns im Hause war, habe ich mir
    ja auch nichts erlaubt. Das Schlimmste ist, daß sie jetzt ... Das muß auch alles wie mit Absicht gleichzeitig über
    mich hereinstürzen! O weh, o weh! Aber was in aller Welt soll ich nun tun?‹
    Eine Antwort gab es darauf nicht außer jener allgemeinen Antwort, die das Leben auf alle Fragen gibt, selbst auf
    die
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