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Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain

Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain

Titel: Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Autoren: Alexandra Marinina
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halbe Stunde später war ein Arzt bei Nastja. Er hatte sofort die schwere Tasche gesehen, die noch mitten im Zimmer stand, ihre rotgeweinten Augen und die Schmerztabletten auf dem Nachttisch.
    »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?« meinte er vorwurfsvoll, während er Nastja den Puls fühlte und ihre blaugeäderten Arme betrachtete. »Wieso schleppen Sie solche Lasten, wenn Sie schon wissen, daß Sie krank sind? Ihre Gefäße sehen ja schrecklich aus. Rauchen Sie?«
    »Ja.«
    »Schon lange? Viel?«
    »Schon lange. Und nicht wenig.«
    »Trinken Sie?«
    »Nein. Nur Wermut, und auch das nur selten.«
    »Wie war nochmal Ihr Name?«
    »Anastasija. Sie können Nastja zu mir sagen.«
    »Ich bin Michail Petrowitsch. Angenehm. Also, Nastja, lassen Sie uns entscheiden, was wir als erstes behandeln: den Rücken oder die Gefäße?«
    »Beides geht nicht?«
    »Das wird nichts.« Er schüttelte sein angegrautes Haupt. »Ihr Rücken braucht Schlammbäder, Massagen, Belastungstraining, vor allem Bewegung und spezielle Unterwassergymnastik. Und das etwa fünf Stunden täglich, wenn es etwas bringen soll. Wie ich sehe, haben Sie auch noch vor zu arbeiten?« Er deutete mit dem Kopf auf die Schreibmaschine. »Da bleibt keine Zeit mehr für eine Behandlung der Gefäße. Also entscheiden Sie.«
    »Wir behandeln den Rücken«, sagte Nastja bestimmt.
    Die Versorgung im Sanatorium hatte in der Tat Niveau: In Anbetracht von Nastjas Zustand wurden alle notwendigen Voruntersuchungen auf ihrem Zimmer gemacht. Eine Krankenschwester kam zum Blutabnehmen, dann wurde ein Elektrokardiogramm gemacht. Zwei Stunden später, als die Ergebnisse Vorlagen, kam eine fröhliche junge Kicherliese ins Zimmer gestürmt – die Neurologin, die über die ›gräßlich verengten‹ Gefäße stöhnte und Tabletten verschrieb. Nach der Neurologin kam ein etwas älterer Internist, und als letzter, kurz vor dem Abendessen, erschien wieder der behandelnde Arzt Michail Petrowitsch, verschrieb alles Nötige und gab Nastja genaueste Anweisungen. Zum Abschied sagte er:
    »Heute ruhen Sie sich aus, das Abendessen wird Ihnen aufs Zimmer gebracht. Nachher kommt die Schwester und gibt Ihnen eine Spritze gegen die Schmerzen. Wenn Sie morgen früh aufstehen können, dann gehen Sie gleich nach dem Frühstück ins Schwimmbad, die Gymnastiklehrerin heißt Katja, sagen Sie ihr, Sie hätten Trainingsprogramm 4. Mindestens zwei Stunden trainieren, klar? Ich habe alles im Kurpaß notiert.«
    Am darauffolgenden Morgen hatte Nastja das vorgeschriebene Trainingsprogramm im Schwimmbecken bereits hinter sich und war nun dabei, gewissenhaft die verordneten Runden auf dem Kurpfad zu drehen. Dabei versuchte sie, ihre Gedanken einigermaßen zu ordnen. Es gab drei Fragen, auf die sie eine Antwort finden mußte:
    Frage Nummer eins: War die Beziehung zwischen ihrer Mutter Nadeschda Rostislawowna und deren Mann, Nastjas Stiefvater, endgültig in die Brüche gegangen? Und wie stand Nastja dazu? Einen Tag bevor sie ins Sanatorium fuhr, hatte ihre Mutter aus Schweden angerufen, wo sie bereits seit zwei Jahren auf Einladung einer großen Universität arbeitete. Sie hatte erzählt, daß man ihr angeboten habe, ihren Vertrag noch um ein Jahr zu verlängern, und daß sie angenommen habe. Besondere Sehnsucht nach Mann und Tochter schien die Mutter nicht gerade zu haben. Und auch ihr Stiefvater, Leonid Petrowitsch, hatte die Mitteilung gelassen aufgenommen, anscheinend hatte er sich daran gewöhnt, daß seine Ehefrau so gut wie nicht mehr existierte. Er wirkte noch recht jung für sein Alter, war gutaussehend, korrekt, und blies als Strohwitwer keineswegs Trübsal. Nastja wußte Bescheid. Am meisten wunderte sie sich über ihre eigene Reaktion: Ihre Mutter würde noch ein ganzes Jahr (Minimum, vielleicht auch länger, falls man ihr erneut eine Arbeit anbot) weg sein, ihr Stiefvater richtete sich inzwischen sein eigenes Leben ein, und ihr, Nastja, war das völlig gleichgültig, als müsse alles so laufen, als sei das alles normal. Sie vermißt ihre Mutter nicht, der Stiefvater kommt ohne Ehefrau aus, die Familie fällt auseinander. Und es macht ihr überhaupt nichts aus. Wieso bloß? Hatte sie etwa gar keinen Familiensinn? War sie wirklich so gefühllos?
    Frage Nummer zwei: Warum heiratete sie nicht? Nastja war sich sicher, daß sie nicht heiraten würde. Doch aus welchem Grund? Nur ein kleines Wort, und Ljoscha würde sie sofort heiraten, ihre Beziehung ging schon über zehn Jahre, und immer noch wohnten
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