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American Gods

American Gods

Titel: American Gods
Autoren: Neil Gaiman
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lächelte den schönen Frauen zu, weil er sich bei ihrem Anblick angenehm männlich fühlte, er lächelte aber auch den anderen Frauen zu, weil er sich so einfach wohl fühlte.
    Er konnte nicht genau sagen, wann es ihm aufzufallen begann, dass er beobachtet wurde. Irgendwo auf seinem Weg durch Reykjavik war er sich plötzlich sicher, dass jemand ihn verfolgte. Von Zeit zu Zeit drehte er sich um, um den Betreffenden ausfindig zu machen, oder blieb vor Ladenfenstern stehen, weniger, um in die Auslage als auf die sich im Glas spiegelnde Straße hinter ihm zu starren, sah aber niemanden, der irgendwie aus dem Rahmen fiel, niemanden, der ihn zu observieren schien.
    Er ging in ein kleines Restaurant, wo er geräucherten Papageientaucher mit Moltebeeren und Seesaibling mit Dampfkartoffeln aß; dazu trank er Coca-Cola, die hier süßer, zuckriger schmeckte, als er sie aus den Staaten in Erinnerung hatte.
    Als der Ober die Rechnung brachte, sagte er: »Entschuldigen Sie. Sie sind Amerikaner?«
    »Ja.«
    »Dann wünsche ich einen fröhlichen Unabhängigkeitstag«, sagte der Ober. Ihm schien vor Zufriedenheit die Brust zu schwellen.
    Shadow hatte gar nicht gemerkt, dass es bereits der 4. Juli war. Unabhängigkeitstag. Ja. Der Gedanke der Unabhängigkeit sagte ihm zu. Er legte den Rechnungsbetrag zuzüglich Trinkgeld auf den Tisch und trat nach draußen, wo vom Atlantik her eine kühle Brise wehte. Er knöpfte sich die Jacke zu.
    Er setzte sich auf eine mit Gras bewachsene Böschung, blickte auf die ihn umgebende Stadt und dachte daran, dass er eines Tages würde nach Hause zurückkehren müssen. Eines Tages würde er sich ein Zuhause schaffen müssen, zu dem man zurückkehren konnte. Er fragte sich, ob »zu Hause« etwas war, was einem Ort gewissermaßen zustieß, wenn genug Zeit vergangen war, oder eher etwas, was man am Ende fand, wenn man nur immer weiterzog und abwartete und sich redlich darum bemühte.
    Ein alter Mann kam über den Hang auf ihn zugeschritten: Er trug einen dunkelgrauen Umhang, der am unteren Ende zerschlissen war, als hätte er ihn auf zahlreichen Reisen begleitet, und auf dem Kopf saß ein breitkrempiger blauer Hut mit einer keck ins Band gesteckten Möwenfeder. Er sah aus wie ein alternder Hippie, dachte Shadow. Oder wie ein Revolverheld, der sich vor langer Zeit zur Ruhe gesetzt hat. Der Alte war von absurder Körpergröße.
    Er hockte sich neben Shadow auf den Hang, nachdem er ihm kurz zugenickt hatte. Über einem Auge trug er eine piratenmäßige schwarze Klappe, das Kinn umgab ein hervorspringender weißer Bart. Shadow rechnete damit, dass der Mann ihn um eine Zigarette anhauen würde.
    »Hvernig gengur? Manstu eftir mér?«, sagte der Alte.
    »Tut mir Leid«, sagte Shadow. »Ich spreche kein Isländisch.« Dann radebrechte er den einen Satz, den er heute im Licht der frühen Morgenstunden mit Hilfe seines Sprachführers gelernt hatte: »Ég tala bara ensku.« Ich spreche nur Englisch. Dann sagte er: »Amerikaner.«
    Der alte Mann nickte bedächtig. »Mein Volk ist vor langer Zeit von hier nach Amerika gegangen«, sagte er. »Aber irgendwann sind sie nach Island zurückgekehrt. Sie meinten, es sei zwar eine gute Gegend für Menschen, aber eine schlechte für Götter. Und ohne ihre Götter fühlten sie sich zu … einsam.« Er sprach fließend Englisch, aber die Pausen und Betonungen in seinen Sätzen waren merkwürdig. Shadow betrachtete ihn: Von nahem wirkte der Mann älter, als Shadow es für vorstellbar gehalten hätte. Das Gesicht war mit winzigen Runzeln übersät, und Risse wie in Granit zogen sich durch die Haut.
    »Ich kenne dich, Junge«, sagte der Alte.
    »Tatsächlich?«
    »Du und ich, wir sind denselben Weg gegangen. Auch ich habe neun Tage am Baum gehangen, ein Opfer meiner selbst an mich selbst. Ich bin der Herr der Asen. Ich bin der Gott des Galgens.«
    »Du bist Odin«, sagte Shadow.
    Der Mann nickte nachdenklich, als müsste er erst die Stichhaltigkeit des Namens abwägen. »Man nennt mich bei vielen Namen, aber ja, ich bin Odin, Sohn des Bor«, sagte er.
    »Ich habe dich sterben sehen«, sagte Shadow. »Ich habe die Totenwache für dich gehalten. Du wolltest um der Macht willen so viel zerstören. Du hättest um deinetwillen so viel geopfert. Du bist dafür verantwortlich.«
    »Ich habe nichts dergleichen getan.«
    »Wednesday hat es getan. Er war du.«
    »Er war ich, ja. Aber ich bin nicht er.« Der Mann kratzte sich am Nasenflügel. Die Möwenfeder hüpfte. »Wirst du
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