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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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unten« von jemandem angefaßt zu werden, und sei es von dem Mann, den sie liebte, fand sie ebenso widerwärtig wie etwa den Gedanken an eine Augenoperation. Babys aber waren von ihrer Überempfindlichkeit ausgenommen. Sie hatte Kinder gern, hatte sich gelegentlich auch schon um die kleinen Jungen ihrer Kusine gekümmert und durchaus Gefallen an ihrer Aufgabe gefunden. Es würde ihr sicherlich gefallen, von Edward schwanger zu sein, und zumindest theoretisch hatte sie auch keine Angst vor der Geburt. Wenn sie doch bloß wie die Jungfrau Maria durch ein Wunder in diesen anschwellenden Leibeszustand versetzt werden könnte.
    Florence vermutete, daß mit ihr irgend etwas grundsätzlich nicht stimmte, daß sie schon immer anders gewesen war und daß diese Andersartigkeit nun zutage trat. Ihr Problem war größer, sinnierte sie, es reichte tiefer als unmittelbarer, physischer Ekel; ihr ganzes Sein rebellierte bei dem Gedanken an nackte Haut und körperliche Liebe; es war ein Angriff auf ihre Person, ihren innersten Seelenfrieden. Sie wollte einfach nicht, daß in sie »eingedrungen«, daß sie »penetriert« wurde. Sex mit Edward konnte nicht der Gipfel ihrer Freuden, sondern nur der Preis sein, den sie zahlen mußte.
    Sie hätte längst mit ihm reden müssen, das wußte sie, schon als er ihr den Antrag machte und noch vor dem Besuch beim freundlichen Pfarrer mit der sanften Stimme und vor den Essen bei ihren jeweiligen Eltern, auch lang ehe die Hochzeitsgäste eingeladen, die Geschenklisten zusammengestellt und bei einem Warenhaus hinterlegt, das große Zelt sowie der Fotograf bestellt und all die übrigen nicht mehr rückgängig zu machenden Vorkehrungen getroffen worden waren. Aber was hätte sie schon sagen, welche Worte wählen können, da sie sich das Problem doch nicht einmal selbst zu erklären wußte? Außerdem liebte sie Edward, zwar nicht mit jener heißen, schwülen Leidenschaft, von der sie gelesen hatte, doch tief und innig, manchmal wie eine Tochter, dann wieder fast mütterlich. Sie hielt ihn gern umschlungen, und es gefiel ihr, seine kräftigen Arme um ihre Schultern zu spüren und von ihm geküßt zu werden, auch wenn sie seine Zunge in ihrem Mund nicht mochte, was sie ihm übrigens wortlos zu verstehen gegeben hatte. Sie fand, er war einzigartig, anders als alle Männer, die sie kannte. Für den Fall, daß er in einem Wartezimmer sitzen oder in einer Schlange anstehen mußte, hatte er in seiner Jackentasche stets ein Taschenbuch dabei, meist eines über Geschichte. Was er las, unterstrich er mit einem Bleistiftstummel. Er war fast der einzige Mann aus ihrer Bekanntschaft, der nicht rauchte. Nie paßten seine Socken zusammen. Und er besaß nur einen einzigen Schlips, schmal, gestrickt, dunkelblau, den er nur umtat, wenn er ein weißes Hemd anhatte. Sie mochte seinen wachen Verstand, seine Zuvorkommenheit, den leicht ländlichen Akzent sowie seinen kräftigen Händedruck, und sie mochte es, wenn er im Gespräch abschweifte und sie auf verblüffende Umwege lockte. Wenn sie redete und er sie dabei mit seinen sanften braunen Augen ansah, fühlte sie sich wie in einer lichten Wolke der Liebe geborgen. Folglich zweifelte sie im Alter von zweiundzwanzig Jahren auch nicht daran, daß sie den Rest ihres Lebens mit Edward Mayhew verbringen würde. Wie hätte sie es da riskieren können, ihn zu verlieren?
    Es gab niemanden, mit dem sie reden konnte. Ruth, ihre Schwester, war zu jung und ihre zweifellos wundervolle Mutter viel zu intellektuell, zu spröde, ein altmodischer Blaustrumpf. Wenn Violet mit einem intimen Problem konfrontiert wurde, flüchtete sie sich in ihre Dozentenrolle, gebrauchte zunehmend längere Worte und verwies auf Bücher, die man ihrer Meinung nach gelesen haben sollte. Erst wenn sie die knifflige Angelegenheit damit für geregelt hielt, gestattete sie sich bisweilen ein freundliches Wort, wenn auch selten, und meist war man hinterher auch nicht klüger als vorher. Bei ihren Freundinnen im Musikkolleg und an der Universität stellte sich Florence das gegenteilige Problem: Sie liebten es, sich endlos über Intimes auszulassen, und schwelgten in ihren Schwierigkeiten. Außerdem kannten sie sich viel zu gut und bombardierten einander geradezu mit Anrufen und Briefen. Doch auch wenn sie ihren Freundinnen kein Geheimnis anvertrauen konnte, machte sie ihnen das nicht zum Vorwurf, sie gehörte ja selbst zur Clique und hätte sich selbst auch nichts anvertraut. Sie war allein mit einem Problem, für
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