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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat
Autoren: Elizabeth George
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fragte sie, und an Joel gewandt: »Was glotzte denn so?«
    Als Joel den Kopf wieder über sein Frühstück beugte, versuchte Genera, die Stimmung in der Küche zu eruieren, um herauszufinden, was hier eigentlich los war. Sie wusste, dass irgendetwas nicht stimmte - irgendetwas, was sie nicht so leicht würde ausmachen können -, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie den Dingen auf den Grund gehen konnte.
    »Warum bist du weggelaufen?«, fragte Genera das Mädchen. »Warum hast du nicht wie deine Brüder einfach gewartet, bis ich nach Hause kommen würde?«
    Ness zuckte die Achseln - eine Gewohnheit, zu der sie sich so häufig hinreißen ließ, dass Genera irgendwann den Wunsch verspürte, ihre Schultern festzunageln - und griff nach der Zigarettenschachtel.
    »Ich habe nicht gesagt, dass du dir eine nehmen kannst, Vanessa.«
    Ness zog die Hand zurück. »Dann eben nich'.« Und etwas verzögert: »Tut mir leid.«
    Diese Entschuldigung bewog Genera zu der Frage, ob sie wegen ihrer Großmutter davongelaufen sei. »Wegen Jamaika? Weil sie euch hiergelassen hat? All das. Du hättest jedes Recht ...«
    »Jamaika?«, wiederholte Ness und schnaubte. »Scheißdreck. Ich such mir hier 'n Job und 'ne eigene Bude. Hatte schon lang die Schnauze voll von der alten Kuh. Kann ich jetzt 'ne Kippe oder was?«
    Da auch Genera von Glorys zwischenzeitlich hochenglischem Einfluss geprägt worden war, gedachte sie nicht, sich Ness' Version ihrer Muttersprache länger zumuten zu lassen. »Sprich nicht so, Vanessa! Du kannst doch vernünftig reden. Also tu es!«
    Ness verdrehte die Augen. »Von mir aus. Kann. Ich. Eine. Zigarette. Haben?« Sie sprach jeden einzelnen Laut überdeutlich aus.
    Genera nickte. Sie stellte keine weiteren Fragen über Ness' Abwesenheit in der vergangenen Nacht und deren mögliche Gründe, und das Mädchen steckte sich die Zigarette auf die gleiche Weise an, wie Genera es am gestrigen Abend getan hatte: an der Flamme des Gasherds.
    Genera beäugte Ness, genau wie umgekehrt. Beide sahen für einen kurzen Moment die Gelegenheit, die sich ihnen bot. Für Genera war es die Einladung, in die Mutterrolle zu schlüpfen, die ihr versagt geblieben war. Für Ness war es ein ebenso flüchtiger Blick auf ein Vorbild, auf einen Menschen, zu dem sie selber einmal werden konnte. So weilten sie beide einen Augenblick fern der Realität in einem Land der Möglichkeiten. Dann erinnerte Genera sich an alles, was sie in ihrem Lebengerade unter einen Hut zu bringen versuchte, und Ness entsann sich dessen, was sie so verzweifelt vergessen wollte. Sie brachen den Blickkontakt. Genera wies die Jungen an, sich mit dem Frühstück zu beeilen. Ness zog an ihrer Zigarette und trat ans Fenster, um einen Blick auf den grauen Wintertag draußen zu werfen.
    Dann machte Genera sich daran, ihrer Nichte die Illusionen bezüglich eines Jobs und einer eigenen Wohnung zu rauben. In ihrem Alter, erklärte sie Ness, werde niemand sie einstellen. Das Gesetz verlangte, dass sie die Schule besuchte. Ness nahm dies besser auf als befürchtet, wenn auch in genau der Weise, die Genera erwartet hatte: mit einem Achselzucken. »Von mir aus, Ken.«
    »Ich heiße Genera, Vanessa.«
    »Von mir aus.«
    Dann begann der mühevolle Prozess, die Kinder in einer Schule unterzubringen. Ein Drahtseilakt, für den Kendras wohltätiger Arbeitgeber ihr nur eine Stunde am Ende jedes Arbeitstages freigab, um sich diesem und all den anderen Problemen zu widmen, die die plötzliche Anwesenheit dreier Kinder in ihrem Leben verursachten. Sie hatte die Wahl, ihren Job im Laden der AIDS-Stiftung aufzugeben, was sie sich nicht leisten konnte, oder mit den Beschränkungen zu leben, die er ihr auferlegte. Sie entschied sich für Letzteres. Dass es auch noch eine dritte Möglichkeit gab, war eine Erkenntnis, über die sie häufiger nachdachte, während sie sich abmühte, preiswerte, aber brauchbare Möbel für das Gästezimmer zu finden, und die Wäsche von vier Personen zum Waschsalon schleppte statt nur ihre eigene.
    Die dritte Möglichkeit war das Jugendamt. Genera musste nur dort anrufen. Erklären, dass sie hoffnungslos überfordert sei. Doch um Gavins willen konnte Genera diesen Weg nicht einschlagen. Ihr Bruder Gavin, der Vater der Kinder; alles, was er sich angetan hatte. Und nicht nur das, sondern auch all das, was das Leben Gavin angetan hatte, bis hin zu seinem vorzeitigen und unnötigen Tod.
    Die Kinder in ihren Haushalt zu integrieren und auf Schulen unterzubringen, dauerte
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