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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat
Autoren: Elizabeth George
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Patriotismus von einer Sekunde zur nächsten ab. Wenn ihr George sich auf den Weg nach Ja-mai-ka machte, dann würde sie das auch tun. Dort brauchte man kein königlich-makelloses Englisch. Vielmehr konnte es dort sogar ein Hindernis sein.
    Also wandelten sich Tonfall, Satzmelodie und Syntax von Glorys charmant antiquiert wirkender Hochsprache zum honigweichen Karibischen. Sie wurde wieder zur »Eingeborenen«, wie ihre Nachbarn sagten.
    George Gilbert hatte London bereits verlassen. Beamte der Einwanderungsbehörde hatten ihn nach Heathrow eskortiert, um das Versprechen des Premierministers einzulösen, etwas gegen jene Besucher zu unternehmen, die ihr Visum »überstrapazierten«. Sie waren in einem Zivilfahrzeug gekommen und hatten unablässig auf ihre Uhren geschaut, während George sich ausführlich von Glory verabschiedete - angenehm beflügelt von jamaikanischem Red-Stripe-Bier, auf das er angesichts der bevorstehenden Rückkehr zu seinen Wurzeln umgestiegen war. »Kommen Sie, Mr. Gilbert«, hatten sie gesagt und ihn an den Armen gepackt. Einer hatte die Hand in die Tasche gesteckt, als wolle er Handschellen hervorziehen für den Fall, dass George nicht kooperierte.
    Aber George hatte keine Einwände dagegen, sie zu begleiten. Nichts war in Glorys Haushalt mehr so wie früher, seit die Enkel dort aufgeschlagen waren wie drei menschliche Meteoriten aus einer Galaxie, die er nie so recht begriffen hatte. »Die seh'necht komisch aus, Glory«, hatte er manchmal gesagt, wenn er glaubte, die Kinder hörten es nicht. »Die Jungs jedenfalls, das Mädchen geht ja noch.«
    »Bist du wohl still«, lautete Glorys Antwort dann immer. Schon das Blut ihrer eigenen Kinder war ein wildes Durcheinander, aber es war nichts im Vergleich zu dem Blut ihrer Enkel - und sie ließ nicht zu, dass irgendjemand sich über eine Tatsache mokierte, die ohnehin so unübersehbar war wie verbrannter Toast im Schnee. Außerdem war gemischtes Blut heutzutage keine Schande mehr wie in vergangenen Jahrhunderten. Es brandmarkte niemanden mehr.
    Aber George schürzte die Lippen. Dann saugte er an den Zähnen, musterte die Campbell-Kinder aus dem Augenwinkel und bemerkte: »Die passen nicht nach Jamaika.«
    Diese Einschätzung konnte Glory nicht abschrecken. Zumindest sah es so für ihre Enkel aus, als der Abschied von East Ac- ton näher rückte. Glory verkaufte die Möbel. Sie verstaute die Küchenutensilien. Sie sortierte Kleider aus. Sie packte die Koffer, und als sich herausstellte, dass sie nicht ausreichend Platz hatten, um all das zu verstauen, was ihre Enkelin Ness mit nach Jamaika nehmen wollte, faltete sie diese Kleidungsstücke und stopfte sie in ihren Einkaufstrolley. Sie würden unterwegs einen zusätzlichen Koffer besorgen, verkündete sie.
    Die kleine Prozession sorgte auf dem Weg zur Du Cane Road für Aufsehen: Glory führte sie an, in einem marineblauen Wintermantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, und mit einem grün-orangefarbenen Turban auf dem Kopf. Ihr folgte der kleine Toby, trippelnd auf Zehenspitzen, wie es seine Gewohnheit war. Er trug einen aufgeblasenen Schwimmreifen um die Taille. Der Nächste, Joel, hatte seine liebe Mühe, Schritt zu halten, denn die beiden Koffer, die er schleppte, behinderten seine Schritte. Ness bildete die Nachhut. Sie hatte sich in eine Jeans gezwängt, die so eng war, dass man sich fragen musste, wie sie sich damit hinsetzen konnte, ohne dass die Nähte platzten. Das Mädchen stöckelte auf den zehn Zentimeter hohen Absätzen ihrer schwarzen Stiefel einher. Sie zog den Einkaufstrolley hintersich her, und sie war alles andere als glücklich darüber. Genau genommen war sie über gar nichts glücklich. Ihre Miene war voller Hohn; ihr Schritt drückte Verachtung aus.
    Es war ein kalter Tag, einer von der Sorte, wie es sie nur in London im Januar gibt. Feuchtigkeit lag schwer in der Luft, vermischt mit Autoabgasen und dem Ruß längst verbotener Kohleöfen. Der Nachtfrost war nicht getaut, und vereiste Gehwegplatten lauerten auf unachtsame Fußgänger. Alles war grau: vom Himmel über die Bäume und Straßen bis hin zu den Gebäuden. Und alles war beherrscht von einer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit. Im schwindenden Tageslicht schienen Sonne und Frühling ein leeres Versprechen.
    Selbst in London, wo man jeden nur denkbaren Anblick irgendwann schon einmal gesehen hatte, zogen die Campbell- Kinder im Bus neugierige Blicke auf sich; aus verschiedenen Gründen allerdings: Bei Toby waren es die
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