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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer
Autoren: Andreas Malessa
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sind. Ob wir noch normal oder schon eine Minderheit oder, Gott bewahre, eine seltene Ausnahme sind. Wie viele von unserer Sorte »es« wie oft pro Woche/ Monat/Halbjahr tun, freitagabends oder sonntagmorgens, in Missionarsstellung oder von hinten, bei Kerzenschein
oder im Dunkeln, spontan oder geplant, ekstatisch oder unbefriedigend. Der Effekt ist immer derselbe: Es geht um sexuelle Selbstvergewisserung. Wo stehen, Verzeihung, wo liegen wir im Vergleich, im mathematischen Durchschnitt, im jährlichen Mittel, im Gesamten so? Können Sie sich was dafür kaufen, wenn Sie es wissen?

    Möglicherweise funktionieren Statistiken zum Sexualverhalten im Hirn der Leser wie eine differenzierte Version des Spiels »Schiffe versenken«: »C 5? Nee«. »B 3? Leider, ja!« Die Sex-Forschungstreibenden möchten möglichst viele treffen. Die Leser möchten sich aber nur von schmeichelhaften Ergebnissen getroffen fühlen. Verspüren Sie noch sexuelles Verlangen füreinander? Ja, und wie! Masturbieren Sie mehrmals täglich im Badezimmer? Natürlich nicht! Wann hatten Sie den letzten Orgasmus? Heute Nacht! Würden Sie in den Puff gehen, wenn Ihre Frau krank ist? Niemals! – Oder hat womöglich derjenige das Spiel »Schiffe versenken« gewonnen, der immer den Kopf schütteln konnte?

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ICH WEIß NOCH GENAU ...

    »Und wie ich da aus dem verschneiten Waldweg ins offene Feld hinaus komme, sehe ich in der Ferne zwei dunkle Punkte und denke: Wölfe!«

    Opas Erzählung von der Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft im Winter 45/46 setzte jedes Jahr verlässlich ein, sobald der erste Schnee gefallen war. Jedes Jahr. In ansteigender Dramatik. »Und wie ich da, völlig entkräftet und mehr humpelnd als gehend, aufs Schneefeld hinaustrete, nähern sich drei Wölfe!« In der nächstjährigen Version – Opa humpelt nicht mehr aufs Feld hinaus, er watet jetzt knietief durch eine Schneewehe – waren es wohl vier, wenn nicht fünf Wölfe, die ihn umkreisten. So genau konnte er das wegen des Schneesturms nicht erkennen. Als die Erzählung ein weiteres Jahr gereift ist, steckte er hüfttief in einem zugeschneiten Straßengraben und ein Rudel hungriger Wölfe hat ihn eingekesselt. Der Kriegsheimkehrer konnte ihren hechelnden Atem hören. Da unterbricht ihn der inzwischen achtjährige Enkel: »Nee, nee, Opa – früher hast Du erzählt, es waren nur zwei!« »Mein Kind«, konterte Opa, »früher warst Du auch noch zu klein für die ganze Wahrheit!«

    Kriminalbeamte und Richter, wahrscheinlich auch Psychotherapeuten, können ein Lied davon singen, dass es keine Erinnerung gibt, die nicht interessengeleitet wäre. Selten erinnern wir uns eines Vorgangs um seiner selbst willen, vielleicht können wir es nicht mal. Meistens verfolgt unsere Erinnerung eine bestimmte Absicht. Viele Erinnerungen, wenn nicht gar alle, erfüllen eine klare Funktion. »Anekdoten sind bewährte Episoden aus unserer Vergangenheit, die wir im Lauf der Jahre auf ihre Wirksamkeit überprüft
und, wenn nötig, verändert und verbessert haben. Sie sind ein wichtiges Werkzeug im Kampf um Aufmerksamkeit und sozialen Erfolg. Nebenbei ist die Anekdote ein verlässlicher Maßstab für den Zustand einer Ehe: Loyale Eheleute werden die Anekdoten ihres Partners ohne jegliches Anzeichen von Ungeduld ertragen, selbst wenn sie die Geschichten schon hundertfach gehört haben.« 60

    Der Wunsch, eine Szene besonders saftig und bunt auszuschmücken, das Leben als abenteuerlich und seine Akteure als besonders heldenhaft darzustellen, ist die eher harmlose Variante. Schwieriger wird es, wenn wir uns als Opfer einer Ungerechtigkeit, als Verlierer eines Konflikts, als Geschädigte eines Unglücks fühlen und uns an die zugefügten Leiden und den entstandenen Schaden von Mal zu Mal, von Jahr zu Jahr schmerzhafter erinnern. Der Zweck mag dem Betroffenen nicht bewusst sein – für die Zuhörenden ist er offensichtlich. Die Erinnerung soll Mitleid erzeugen, soll Empörung hervorrufen und sie soll vor allem unseren Anspruch auf Trost, auf Entschädigung, auf Wiedergutmachung legitimieren. Damit meine ich nicht jene Lebensverläufe, bei denen es einen tragischen biographischen »Urknall« gegeben hat, ein Unglück, eine Katastrophe, die alle folgenden Lebensjahre wie in Klammern hinter ein Vorzeichen schrieb. Es sitzen unauffällige Menschen neben uns in der U-Bahn, die als Kinder vergewaltigt wurden. Andere haben die Folterkeller der Diktatoren Afrikas und des Orients überlebt, sind schwer
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