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Altes Herz geht auf die Reise - Roman

Altes Herz geht auf die Reise - Roman

Titel: Altes Herz geht auf die Reise - Roman
Autoren: Hans Fallada
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geplättet, seine weißen, sehr kleinen, etwas vollen Hände, an deren Handgelenken erst da und dort der erste gelbe Altersfleck auftauchte, trugen trotz aller Bücher und Schreibereien nie ein Spürchen Staub oder Tinte.
    Betreut wurde der Professor von der Witwe Müller, die hinten in der Küchenregion lautlos wirtschaftete, lautlos ihm das Essen hinstellte, an jedem Sonnabend ungefragt die frische Wäsche über den Stuhl legte und nie ein überflüssiges Wort sprach.
    Die beiden waren so ineinander eingelebt, daß sie oft viele Wochen nicht einmal miteinander sprachen. An jedem Morgen jedes Monatsletzten fand Professor Kittguß über seinen Schreibtischsessel gebreitet liegen: den Mantel, dazu den Hut und den Stock. Aus einer Lade hob erdann das Sparbuch, ging langsam durch die Straßen zu seiner Kasse, wartete bedächtig versonnen am Schalter, bis er angesprochen wurde, hob das – immer gleiche – Wirtschaftsgeld ab, ließ den Rest der Pension seinem Guthaben zuschreiben und ging langsam – jetzt schon wieder voll mit seiner Arbeit beschäftigt – nach Haus. Dort wartete bereits im Flur die Müllern – nahm Mantel, Hut, Stock und Wirtschaftsgeld wortlos entgegen, und Professor Kittguß setzte sich wieder für einen neuen Monat an seine geduldige, grüblerische Arbeit.
    Zu Beginn seiner Studien hatte er in der Erleuchtung gemeint, dem Ziele ganz nahe zu sein. Aber je länger er arbeitete, um so ferner schien es zu rücken. Er saß und sann und grübelte über jedem Wort, und die Jahre rannen dahin. Aber wenn wir von ihrer sechzehn gesprochen haben, so muß bemerkt werden, daß Professor Kittguß von
dieser
Zahl nichts wußte, denn sie waren ihm alle wie
ein
Tag. Daß er selbst nun schon stark auf die siebziger Jahre seines Lebensalters losmarschierte, war ihm noch nie bewußt geworden über der Auslegung eines Briefes, wie dieser ist: »Und ich hörete eine Stimme in der Mitte der vier Tiere sagen: Ein Vierling Weizen um einen Zehner und drei Vierling Gersten um einen Zehner, und dem Öl und dem Wein tue kein Leid.«
    Er saß und las und sann und schlug nach und bedachte dieses und jenes, und schließlich schrieb er nieder: »Hier ist die Rede von einer Zeit, die für das Öl und den Wein besser ist als für die Gerste und den Weizen. Alles miteinander aber zielt auf eine gemäßigte Teuerung. Weizen und Gerste, Öl und Wein sind die gemeinsten und nötigsten Lebensmittel. Also hält der hier gegebene Befehl gar viel in sich. Unter Trajans Regierung hat es, besonders im Süden, in Ägypten, das sonst ein fruchtbares Land und vieler Völker Kornboden war, eine namhafte Teuerung gegeben.Wenn der Nil sich nicht hoch genug, sondern unter vierzehn Schuh ergoß, gab es gewiß Teuerungen, wie Plinius Buch 5, Kapitel 9 bezeugt. Anno 110 im dreizehnten Jahre Trajans stieg der Nil nur auf sieben Schuh, wie Harduinus mit einer alten Münze beweist …«
    So weit war Professor Kittguß mit seiner Auslegung der Offenbarung Johannis an diesem trüben Oktobernachmittag des Jahres 1912 gekommen, als ihm bewußt ward, daß es an seiner Tür gepocht hatte, daß jemand an seinem Schreibtisch stand. Langsam und ein wenig widerwillig blickte er hoch und sah in das Gesicht der Witwe Müller. Dieses Gesicht drückte so vielerlei aus, vom Unwillen über die Störung an, die sie verursachen mußte, bis zu einem gewissen, ziemlich deutlichen Ekel, daß er ganz unwillkürlich sein Schweigen brach und fragte: »Nun, Witwe Müller, was gibt es?«
    »Ein Junge«, flüsterte die Witwe Müller unwillig.
    »Also ein Junge«, antwortete der Professor beruhigend, und eine Erinnerung an seine Lehrerjahre kam ihm. Er sah zur Tür und meinte schon den Klassenprimus Porzig eintreten zu sehen, die rote Schülermütze mit dem weißen Band in der Hand. Manchmal hatte Porzig – oder auch ein anderer – ihn in solch dämmriger Stunde aufgesucht und hatte die eine oder andere Frage gestellt, die schließlich alle darauf hinausliefen: wenn ich gläubig bin, muß ich
alles
glauben?
    Wie eine Vorahnung kommender Ereignisse rührte den alten Professor ein Erinnern an jenes holde, vertrauensvolle Ehemals an – er sah auf die Tür, die Müllern …
    Er vergaß, daß der Klassenprimus Porzig jetzt ein Mann Mitte der Dreißiger sein mußte, daß ihm eine sehr lange Spanne Zeit über dem Papier zerronnen war, daß es unter den jetzt Jungen niemanden gab, der auch nur seinen Namen wußte.
    Beinahe lächelnd sagte der alte Mann: »Und warum kommt der Junge
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