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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot
Autoren: C Erdmann
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dem goldenen Käfig der Eiskönigin. Eben erinnerte ich mich. An das, was ich war. Lang vor dieser Zeit. Eben sah ich, wer du wirklich bist. Wenn ich versuche, diesen Augenblick festzuhalten, wird er verschwunden sein. Ich werde lange auf ihn warten. Bis mein Haus zu Staub zerfällt.
    Und so neigte das Semester sich dem Ende zu. Kein Chor setzte ein, um irgendein Geschehen zu bezeugen oder gar zu prophezeien. An einem sonnigen Dienstag Mitte Juli beendete Professor Warnkin seine Vorlesung mit dem letzten Lachen Rembrandts aus einem letzten Selbstportrait heraus. Rembrandt ging von dieser Welt wie Demokrit, schallendesGelächter anstimmend. Als die Versammlung sich dann auflöste, wandte sich Aljoscha um zu IHR, zum ersten und zum letzten Mal, und mit einem nicht mehr ganz so kurzen Blick in IHRE unbewegten Augen fragte er SIE – nichts. Er fragte sich, ob er SIE wohl jemals wiedersehen würde. Als SIE vom Strom der Aufbrechenden mitgezogen wurde, sagte er IHR stumm Adieu.
    Fühlst du oder fürchtest du das Licht
    Fühlst du oder fürchtest du das Licht
    Hört dich niemand rufen oder rufst du nicht
    Wahrscheinlich hatte seine Phantasie ihm einen Streich gespielt. Sehen ist das Eindringen von Bildern, lehrte Demokrit. Bilder lösen sich von den Objekten, schwirren unserem Wahrnehmungsorgan entgegen und passen sich beim Eindringen der jeweiligen Beschaffenheit des Auges an. Was wir sehen, hängt davon ab, welche Bildatomstruktur das Auge zuläßt. Feuchte Augen sehen mehr als trockene. Vielleicht war es das, was Rembrandts unglaubliches Alterslachen auslöste. Vielleicht hatte Aljoscha eine merkwürdige Organbeschaffenheit.
    Die Aufführung war vorbei. SIE war eine geduldige Zuschauerin geblieben; regungslos und mit den nichtsverratenden Augen einer Sphinx hatte SIE seine ewige Wiederkehr geschehen lassen, zehnmal, zwölfmal, fünfzehnmal. Hatte SIE diese Aufführung gewünscht, vielleicht sogar verlangt? Es gab keine Antwort mehr auf diese Frage. Der Vorhang war gefallen, schlicht und schnell wie auf einer Jahrmarktsbühne. Hatte er denn eine Zugabe erwartet? Einen Epilog erhofft? Zu spät nun, um IHR zu bedeuten, daß er wußte. Er wußte, daß SIE anders war, unvorstellbar anders.
    Wohin SIE jetzt ging, wer konnte das schon wissen… er wollte es nicht wissen. Es gab nichts mehr zu wissen. Es gab nichts mehr zu tun. Der Hörsaal war längst leer. Aljoscha ging zur Metro, und alles schien ihm wie die Szene eines Traums, die sich ständig
    AND I’VE BEEN PUTTING OUT FIRE
    wiederholt in einer Endlosschleife, doch kurz vor dem entscheidenden, ersehnten Bild
    WITH GASOLINE
    erfolgt jedesmal der Schnitt.

3
    Pjotr, der um genau drei Tage jüngere Bruder Aljoschas – sie waren Brüder aus Wahlverwandtschaft –, war einer der besten Köpfe seiner Generation in jenen Tagen, als Staatsmacht, Fernsehsender und Radiostationen sämtlich in die Hände der Volksverblöder fielen, und die wildesten Rebellen plötzlich dazu übergingen, sich noch zeitig einen freien Stuhl zu sichern, einen Stuhl auf dem freien Markt, oder gleich einen ganzen Markt. Pjotr Semjonow, immer noch bereit, ungerecht zu werden im Verlangen nach Gerechtigkeit, hatte seinen Trotz bewahrt, indes herabgestimmt auf einen Ton, der im Einklang war mit schöpferischer Inspiration, und die Revolutionsplakate in seiner Mansarde waren eingetauscht gegen Blätter aus Goyas Los Desastres de la guerra. Sein Blick galt nicht mehr dem System, sondern dem Ausschnitthaften, der bedeutsamen Facette, seine unbestechlichen Augen waren die eines Zeichners geworden: er besuchte die Kunstakademie in B***.
    Pjotr war Gegenwartsfanatiker, auch, weil es so schwer war, dem Gewesenen zu entwachsen ein für allemal; Aljoscha störte es zumindest weniger, wenn die Seele aus der Mitte eines Eindrucks weggerissen wird in die Vergangenheit. Er hatte das Gefühl, daß sich die Zeiten ohnehin vermischen. Zum Beispiel – es gibt Mädchen, die immer, wenn sie eine Rose pflücken, den Dorn fühlen. Und dann gibt es Mädchen, die Rosen pflücken, um den Dorn zu fühlen. Beide leben nie und nimmer nur in der Gegenwart.
    Malt die Zeit mit Buntstift oder grau in grau
    Malt die Zeit mit Buntstift oder grau in grau
    Ist sie dir nicht grün oder machst du einfach blau
    Zuweilen produzierte Pjotr seltsame Zeichnungen und Aquarelle, und Aljoscha hatte einen Stoß seltsamer Gedichte produziert, doch wie Camus sagt, neigt der Mensch dazu, sich zu verzetteln, und so war Pjotr der Maler, der nicht malte,
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