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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat
Autoren: David Anthony Durham
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kristallblaue Wasser schimmerte. Auch ein paar Vadayaner waren dabei, doch Thasren wich ihren Blicken aus. Als er auf den festen Steinen des Kais stand und die ihn umwimmelnden Mitreisenden betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er im Begriff war, sich in die Klauen des Feindes zu begeben. Sollte jemand ihn erkennen oder seine Absichten erraten, würde er zur Zielscheibe jedes Dolches, Schwertes oder Speers auf der Insel werden. Unwillkürlich wartete er ein wenig länger als beabsichtigt, überrascht, dass keiner ihn bezichtigte. Doch es rief niemand eine Warnung oder hielt inne, um ihn misstrauisch zu beäugen.
    Mit kühlem Blick musterte er die große Mauer aus rötlichem Stein. Dahinter ragten die Dachspitzen und Türme empor, viele davon dunkelblau gestrichen, andere dunkelrot oder rostbraun, einige vergoldet und im Sonnenschein funkelnd. Die Gebäude waren in Terrassen übereinandergeschichtet, so steil wie an einem schroffen Berghang. Der Anblick war wunderschön, das konnte selbst er einräumen. Mit der flachen, bedrückenden Heimat des Attentäters hatte dies keinerlei Ähnlichkeit. Tahalia war aus massiven Kiefernstämmen erbaut, die zum Schutz vor der Kälte zur Hälfte in den Boden eingegraben und völlig schmucklos waren, da die dunkle Winterzeit, in der sich auf jeder ebenen Fläche der Schnee türmte, so lange währte. Der Gegensatz war schwer zu erfassen, und so schüttelte Thasren den Gedanken daran ab.
    Er schlenderte auf das Tor der Unterstadt zu. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, doch er würde einen Weg tief in die Stadt finden und jede Tarnung annehmen, die nötig war, bis er sich Zutritt zum Palast verschaffen konnte. Dort würde er die Frage beantworten, die ihm sein zweiter Bruder erst vor einem Monat beiläufig gestellt hatte. Wollte man ein vielarmiges Untier töten, hatte Maeander gesagt, warum ihm dann nicht gleich den Kopf abschlagen? Wenn die Kreatur erst einmal orientierungsund führungslos herumtaumelte, konnten sie sich immer noch um die Gliedmaßen und den Körper kümmern. Der Attentäter musste dem Kopf nur nahe genug kommen, den geeigneten Moment abpassen und dann vor aller Augen zuschlagen, damit die Kunde davon sich anschließend wie ein ansteckendes Fieber von Mund zu Mund verbreitete.

2

    Um die Langeweile des vormittäglichen Unterrichts zu überstehen, saß Mena Akaran stets an derselben Stelle, nämlich auf einem Grasflecken hinter ihren Geschwistern. Sie war vor kurzem zwölf geworden, und von hier aus konnte sie durch ein Loch in der steinernen Brüstung schauen, die den Hof säumte. Das Loch umrahmte eine Szenerie, deren Vordergrund die vielfach übereinandergeschichteten Terrassen des Palasts einnahmen. Jenseits der westlichen Stadtmauer weitete sich der Blick, erfasste das Ackerland der wogenden Hügel und schweifte zu den Klippen und kleinen Buchten der Südküste hinüber. Die am weitesten entfernte Erhebung war gleichzeitig die höchste: die Felsklippe, die Hafenfels genannt wurde. Sie war mit ihrem Vater dort gewesen und erinnerte sich an den Tanggeruch, an das Geschrei der Vögel und den Schwindel, der einen erfasste, wenn man aus fünfzehnhundert Fuß Höhe auf die Brandung hinunterblickte.
    Wenn sie in dem Freiluft-Unterrichtszimmer der Königskinder saß, schweiften Menas Gedanken ab. Heute Morgen stellte sie sich vor, sie sei eine Möwe, die sich von den Klippen schwang. Senkrecht schoss sie in die Tiefe und segelte über die Wasseroberfläche dahin. Sie flitzte zwischen den Segeln der Fischerboote hindurch und über die Handelskähne hinweg, die sich mit den kreisförmigen Strömungen von einem Ort zum anderen treiben ließen. Dies alles ließ sie hinter sich, und die Wogen wurden steiler. Das türkisfarbene Wasser wurde erst blau und dann meeresschwarz. Sie flog über funkelnde Sardellenschwärme und über die Rücken von Walen hinweg, suchte das Unbekannte, von dem sie wusste, dass es irgendwann hinter den weißschaumigen Wellen am Horizont auftauchen würde …
    »Mena? Hört Ihr zu, Prinzessin?« Jason, der Lehrer, ihre Brüder und ihre Schwester blickten sie alle an. Die Kinder saßen im feuchten Gras. Jason stand vor ihnen, in der einen Hand ein altes Buch, die andere in die Hüfte gestemmt. »Habt Ihr meine Frage verstanden?«
    »Natürlich hat sie die Frage nicht mitbekommen«, sagte Aliver. Mit sechzehn war er der Älteste und der Thronerbe. In letzter Zeit war er in die Höhe geschossen, und jetzt war er größer als sein Vater. Außerdem
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