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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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war schon zweimal drüben, in Stettin.«
    »Mensch, Stettin gibt´s nicht mehr, das heißt jetzt Sczesczin« verbesserte Enrico mit gespielter Empörung.
    Erwin winkte ab. » Schisko jenno! Sind ja nich alle so´ne Sprachkünstler wie du, ich hab jedenfalls ´ne Menge Häuser wiedererkannt. War auf´m Markt und hab´ für meine Käthe ´ne Strickjacke jekauft, richtig dicke Wolle, so leuchtende, die du auch im Dunkeln siehst. Und die Frau da wollte unser Jeld, keine Sloty, verrückt, was?«
    Gottfried sog an seinem Fünfundzwanzig-Pfennig-Stumpen und paffte eine weiße Rauchwolke in den Raum, dann räusperte er sich und begann betont langsam. »Mein Neffe ist mit seiner Freundin auch rüber, die waren bloß für ´ne halbe Stunde in ´nem Café und als er zurückgekommen ist, da waren die Räder von seinem Auto weg, alle vier. Also ich bleib lieber auf unserer Seite.«
    Enrico grinste: »Abgang ist allerwärts. Ich brauche für meinen Trabbi dringend ´n paar neue Reifen, vielleicht sollt´ ich´s auch mal auf die polnische Tour versuchen.«
    »Die kennen ja jetzt auch einfach so zu uns rieberkommen«, mischte sich Joneleit ein, »kaufen alles weg in der Kreisstadt, sagt meine Alte, Handtaschen, Schuhe, Stiefel und jleich immer finf Paar. Und wenn du was sagst, bist du gleich´n Nazi.«
    »Müssen sie an der Grenze eben aufpassen, unsere Leute, und ihnen den Ramsch gleich wieder abnehmen. Ruck zuck!«, erklärte Enrico entschieden.
    Gottfried winkte ab und sagte zu Joneleit: »Deinen Schnaps werden sie dir schon nicht wegnehmen, die haben nämlich selber genug davon.«
    »Ich hab jedenfalls zu meiner Käthe jesagt: Das Haus müssen wir jetzt immer abschließen, kommen ja auch Zijeuner rüber. Ich hab gedacht, die jibts jar nicht mehr.« Erwin winkte eine neue Runde Bier heran. »Es war hier immer so schön ruhig, also meinetwegen könnten sie die Jrenze wieder dichtmachen.«
    Sie empfanden in ihrem abgelegenen Winkel die Öffnung der Grenze zu Polen im Grunde als Ruhestörung, ja geradezu als Bedrohung, dachte ich. Die Änderung im Grenzverkehr hatte etwas mit der großen Politik zu tun, mit der sie nach wie vor nichts zu tun haben wollten.
    »Warst du auch schon auf der anderen Seite? Ich meine in Polen« Gottfried sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. »Keine Lust«, erwiderte ich lakonisch.
    »Dich zieht es mehr in Richtung Westen, was?!« Enrico lachte laut, aber als einziger. Die anderen sahen mich betreten an. Für einen Moment herrschte Schweigen. Da platzte es aus Erwin heraus: »Warum in die Ferne schweifen! Zu Hause is es doch immer noch am schönsten! Prost!« Er hob herausfordernd sein Glas und wir tranken alle den klaren Kornschnaps auf einen Zug. Ich spürte wie er in der Kehle brannte.
    Erwin schob seine blaue Mütze ins Genick, wischte sich die Stirn und begann einen Witz zu erzählen, der mit dem bekannten Da kommt ´ne Frau zum Arzt begann. Ich stand auf, um auf die Toilette zu gehen. In meinem Rücken hörte ich das brüllende Gelächter. Erwin konnte wie kein anderer Witze erzählen.
    Nein, hier im Dorf war vieles anders, als in diesem benachbarten Karnevalsstädtchen, versuchte ich mir einzureden. War hier der Lehrer Kollmann seinerzeit nicht Spießruten gelaufen, weil er genau das getan hatte, was der Lederjackenmann von Kanzog verlangt hatte? Und zwischen den Männern hier in der Kneipe und dem grauhaarigen Genossen in der Berliner Behörde lagen Welten, obwohl er wie Gottfrieds Zwillingsbruder ausgesehen hatte.
    Die Bretterbude mit der Pinkelrinne auf dem Hof war eiskalt und ich war froh, wieder in den geheizten Schankraum zurück zu kommen.
    »Wo bleibst du denn«, rief mir Enrico entgegen, »der Schnaps wird warm und auf einem Bein kann man nicht stehen!« Er drückte mir das gefüllte Schnapsglas in die Hand, das ich noch im Stehen austrank.
    »Und wenn ich noch zwei trinke, wird´s auch mit beiden Beinen nichts mit dem Stehen, dann kann ich auf allen Vieren nach Hause kriechen«, behauptete ich mit schon etwas schwerer Zunge.
    »Du musst eben mehr ieben!« Joneleit grinste amüsiert.
    Ich nickte und versprach allen, mich zu bessern, dann stand ich auf und rief Wolfgang zu, dass ich zahlen wolle. Der winkte ab und sagte, dass heute das Einfahren von Korn vom Kneipenkollektiv bezahlt würde. Ich starrte ihn ungläubig an, zuckte dann die Schultern und ging vorsichtig tastend aus der Kneipe. Die kalte Winterluft auf der Dorfstraße wirkte ernüchternd, es wehte ein eisiger Wind, der meine
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