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Abendkuss - Teil I

Abendkuss - Teil I

Titel: Abendkuss - Teil I
Autoren: Birgit Loistl
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mich orientieren zu können. Zwar sind meine Augen besser             ausgebildet, als die eines Menschen, trotzdem habe ich mich im Laufe der Jahrtausende so sehr an das       Mensch-Sein gewöhnt, dass ich diese kleine Hilfe gerne in Anspruch nehme. Einen Moment fühle ich mich wie ein Verbrecher. Der Gedanke wieder zu Verschwinden flackert kurz auf, eher ich ihn sofort wieder verdränge.     Schließlich verbringe ich meine Zeit nicht zum Vergnügen hier, ich habe eine Mission zu erfüllen. Langsam gleitet mein Blick durch das Zimmer, das sehr spärlich ausgestattet ist. Ich schleiche durch den Raum, obwohl sich      niemand im Haus befindet und mich niemand hören kann. Mias Vater und ihre Schwester sitzen noch im         Restaurant, Mia ist in Sicherheit. In Sicherheit vor Lilith und auch vor mir. Vorsichtig greife ich nach dem Buch, dass auf ihrem Kopfkissen liegt.
    Mias Tagebuch.
    Ich zögere, als ich über den Samteinband streiche. Ein Foto steckt in der Mitte und markiert die Seite, die     zuletzt beschrieben wurde. Es ist das Foto einer Frau. Der Frau aus dem Unfallwagen. Die Ähnlichkeit ist          verblüffend. Die meergrünen Augen eingerahmt in lange, schwarze Wimpern; die herzförmige Wölbung ihrer     Lippen; ihre zerbrechliche Silhouette.
    Ich betrachte das Bild und streiche darüber, als könnte es mir eine Antwort auf die vielen Fragen geben.      Obwohl ich weiß, dass in dem Tagebuch ihre geheimsten Gedanken verborgen sind und dass ich es auf keinen Fall lesen sollte, kann ich dem Drang nicht widerstehen, hineinzusehen. Mehr von Mia zu erfahren. Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich mir vorstelle, etwas über mich darin zu lesen. Was würde sie wohl über mich schreiben?
    Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihr Gesicht vor mir. Ich sehe sie durch die Straßen laufen wie ein          verwundertes Tier. Meine Hände ballen sich zu Fäusten zusammen, wenn ich nur dran denke. Wenn ich Lilith in die Hände bekomme, dann ist sie verloren.
    Ich atme ein paar Mal tief ein und aus und spüre ein seltsames Ziehen im Magen. Aufregung? Wie ist das   möglich? Seit meinem Sturz aus dem Himmel habe ich so etwas nicht mehr gespürt. Vorsichtig öffne ich ihr        Tagebuch und beginne zu lesen. Es sind Gedichte. Mia hat ihre Gedanken in Form von Gedichten festgehalten. Als ich einige Seiten weiterblättere, bemerke ich, dass sie ausschließlich von Schmerz und Angst geprägt sind.
    Auf einmal spüre ich das seltsame Bedürfnis, ihr diese Angst zu nehmen. Ein Lächeln auf ihren Lippen, das Leuchten ihrer Augen zu sehen. Ich seufze bei dem Gedanken, denn es ist meine Aufgabe ihr das Leben zu       nehmen. Ihr das Leben zu stehlen, damit Unsersgleichen sein wirkliches Leben zurückbekommt.
    Ich lege das Buch zurück auf ihr Bett und sehe mich weiter in ihrem Zimmer weiter um. Im Laufe der Zeit habe ich bereits einige Häuser der Menschen genauer betrachtet. Ein Zeitvertreib, um meinem Aufenthalt auf der Erde so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber solch ein Raum ist mir bisher noch nicht untergekommen. Nackte Wände. Keine Farben, keine Bilder. Als besitze Mia keine Vergangenheit, keine Gegenwart. Kein Leben.
    Ich öffne ihren Kleiderschrank, schiebe Jacken und Blusen zur Seite und suche nach Dingen, die mir etwas über sie erzählen. Die meisten Menschen verstecken gerne private Dinge, die ihnen wichtig sind, damit andere        Menschen sie nicht zu Gesicht bekommen. Dabei wäre es so viel sicherer, diese Dinge in ihren Herzen zu verstecken. Selbst der Tresor einer Schweizer Bank wäre ein Kinderspiel zu diesem Versteck. Doch bis auf ein verstaubter Cellokasten, der in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks verstaut ist, ist hier nichts zu finden. Ich schließe die Schranktür und werfe einen Blick aus dem Fenster. Wie gerne würde ich sie näher kennenlernen. Vielleicht sollte ich meine Mission ein wenig hinausschieben, um mehr über sie zu erfahren. Ich habe noch einige Tage Zeit, bis es soweit ist.
     Lilith streift über den Rasen hinweg bis sie kurz vor der Haustür stehen bleibt. Sie verharrt einen Moment,   unsere Blicke begegnen sich und noch ehe ich reagieren kann, dreht sie sich um und verschwindet im Gebüsch.
    Es ist Zeit für mich zu gehen. In wenigen Minuten werden sie zurückkehren. Doch irgendetwas hält mich hier. Ein unsichtbares Band, das mich davon abhält, ihr Reich wieder zu
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