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Abendkuss - Teil I

Abendkuss - Teil I

Titel: Abendkuss - Teil I
Autoren: Birgit Loistl
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dann müsstet ihr euch ja prima verstehen. Ihr habt eine Menge gemeinsam“, sagt Leah. Als hätte sie mir gerade in den Bauch geboxt, zucke ich zusammen. „Ich habe einen Blick in euer Klassenbuch geworfen. Wie viele Stunden hast du bereits gefehlt, Mia?“ Ihre Augen blitzen auf und ich sehe die Genugtuung in ihrem Gesicht.
    „Du schwänzt die Schule?“ Die Stimme meines Vaters klingt plötzlich hellwach.
    „Es geht hier doch gar nicht um mich!“, verteidige ich mich und beiße mir dabei so fest auf die Lippen, bis ich Blut schmecke.
    „Was ist hier los, Mia? Warum erzählst du mir nicht, wenn du Probleme hast.“
    „Wann denn?“, platzt es aus mir heraus. „In den wenigen Minuten, in denen du uns mit deiner geistigen Anwesenheit beglückst? Mama ist gestorben, nicht du. Ich weiß es, ich war dabei!“
    In diesem Moment verliert mein Vater seine Gesichtsfarbe. Seine Hände klammern sich an der Arbeitsplatte fest. Ich seufze, lasse den Kopf in den Nacken fallen und schließe die Augen. In diesen Momenten wünsche ich mir, einfach zu verschwinden. Mich einfach nur in Luft aufzulösen. Mein Leben hinter mir zu lassen.
    „Es tut mir leid“, flüstere ich und sehe zu ihm. Es dauert ein paar Minuten bis mein Vater sich bewegt und zu uns an den Tisch geht. Er setzt sich auf den Stuhl neben mich, senkt seinen Blick und seufzt.
    „Ich weiß, dass ich keine große Hilfe für euch zwei bin und dass ich dich im Stich gelassen habe, Mia. Wenn ich etwas für dich tun kann, musst du es mir sagen.“
    „Ich komme damit alleine klar.“ Ich will dieses verdammte Mitleid nicht. Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und funkle Leah wütend an, die mir gegenüber sitzt und grinst.
    „Was machst du in der Zeit, während du nicht zur Schule gehst?“
    Ich starre auf die Tischplatte und überlege mir einen Plan, wie ich meine Schwester umbringen kann. Still und langsam, damit sie genauso Höllenqualen leidet wie ich.
    „Ich laufe durch die Stadt.“ Mit den Fingernägeln kratze ich Kerzenwachs von der Tischplatte. „Ich kann besser nachdenken, wenn ich alleine bin.“
    „Worüber?“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Ich weiß, dass er es nicht hören will. Bisher habe ich nur mit der Therapeutin über den Unfall gesprochen, aber weder Leah noch mein Vater habe ich erzählt, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Meine Mutter ist tot. Alles andere ist unwichtig! “Ich kann dir nicht helfen, Mia, wenn du es mir nicht erzählt. Du hast bisher noch kein Wort über den Unfall gesprochen. Woher soll ich wissen, was dir Probleme bereitet?“
    „Mia selbst ist ein einziges, großes Problem.“ Leah schiebt ihren Stuhl nach hinten und greift nach ihrem Rucksack. Ich sehe sie an und frage mich, was aus meiner kleinen Schwester geworden ist. Welcher Teufel sie mir genommen und stattdessen dieses Monster hiergelassen hat. „Johannes ist da. Ich verschwinde jetzt besser.“ Sie wirft mir noch einen „Diese-Runde-geht-an-mich“-Blick zu, bevor sie aus der Küche läuft und die Haustür hinter sich ins Schloss fallen lässt. Eine bedrückende Stille breitet sich in der Küche aus. Ich möchte ihm gerne sagen, wie leid es mir tut, aber kein Wort kommt über meine Lippen. Paps steht auf und legt mir seine Hand auf die Schulter. Sie ist schwer und drückt mich nieder. Obwohl mein Vater mir damit die Last nehmen will, habe ich das Gefühl, vollkommen unter ihr zusammenzubrechen.
     Mein Unterricht beginnt heute eine Stunde später, sodass ich erst noch eine Tasse Milchkaffee trinke, um den Tag halbwegs über die Runden zu bringen, während Paps sich bereits auf den Weg ins Krankenhaus macht. Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, die Schule zu schwänzen, aber mein schlechtes Gewissen ist stärker. Ich kann es mir wirklich nicht erlauben noch mehr Stunden zu fehlen. Es ist ein eiskalter, sonniger Februartag und bevor ich den Roller aus der Garage hole, überlege ich kurz doch mit der U-Bahn zur Schule zu fahren, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. Einen Moment bleibe ich noch kurz vor der Haustür stehen und betrachte die Stelle unter der Straßenlaterne, an der der Fremde letzte Nacht gestanden hat. Gerade als ich die Straße überqueren möchte, um mir das Backsteinhaus näher anzusehen, öffnet sich die Tür und das Mädchen von letzter Nacht verlässt das Haus. Sie tänzelt die Treppe hinab, bis sie schlagartig auf der letzten Stufe stehen bleibt. Jetzt bei Tageslicht kann ich ihr Gesicht genauer sehen.
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